Gezeitenwelten 1 - Der Wahrträumer

“Die Geschichte der Walfängerin mit Namen Alessandra begann an einem Spätsommerabend im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes. Und sie begann mit einem Blutbad'. Mit diesem dramatisch anmutenden Satz eröffnet sich dem Leser 'der Wahrträumer', und damit der Auftakt zu einem Projekt, dass von Wolfgang Hohlbein nicht zu Unrecht als 'Das größte deutsche Fantasy-Epos, das jemals geschrieben wurde', bezeichnet wird. Thomas Finn, Hadmar von Wieser, Karl-Heinz Witzko und Bernhard Hennen, alle wohl hinlänglich bekannt durch ihre Arbeit für das Schwarze Auge, haben sich für das Gezeitenweltenprojekt zusammengeschlossen, um in 12 (oder mittlerweile eher 13) Bänden einer neuen, in dieser Form bislang nie angedachten, Fantasywelt Leben einzuhauchen.

Die Geschichte der Gezeitenwelt beginnt für den Leser mit dem Einschlag eines Kometen, der sowohl das Antlitz der Welt als auch den Verlauf ihrer Geschichte entscheidend verändern soll. In vier voneinander autarken Handlungssträngen erzählt Hennen von den verschiedenen Regionen einer Welt, in der alte Reiche fallen und neue entstehen, während längst vergessene Legenden plötzlich wieder zum Leben zu erwachen scheinen und eine unheilvolle Entwicklung ihren Anfang nimmt.

Hennen geht mit dem Wahrträumer nicht nur inhaltlich neue Wege, die Welt, die er aufbaut, zeigt sich auch nicht minder vielseitig als die unsere. Anstatt sich konventionell auf einen kulturellen Kreis zu beschränken und als Hintergrundwelt zu adaptieren lässt er jeden der Haupthandlungsstränge in einem anderen Abschnitt der Welt ablaufen. Dabei verbindet er Elemente aus irdischer Mythologie, Religion und Weltgeschichte zu einem verwirrenden, aber ohne Frage auch fesselnden neuen Konstrukt, das dem Leser das Gefühl vermittelt, nach der Lektüre des Buches auch tatsächlich erst einen ersten, kleinen Blick auf die Gezeitenwelt geworfen zu haben.

Als sich der Komet in den Wochen und Monaten vor dem Einschlag am Himmel zeigt wird dies von der Kirche als ein warnendes Omen des abwesenden Gottes Aionar verstanden. Sie sendet ihre Priester aus, um junge Menschen auszuwählen, die durch ihren rituellen Opfertod zeigen und den abwesenden Gott gnädig stimmen sollen. Unter diesen Auserwählten befindet sich auch die Walfängerin Alessandra Paresi, die in dem kleinen Fischerdorf Nantala ihr Dasein fristet und durch die Gunst des alten Leuchtturmwärters Orlando zu Reichtum gekommen ist. Doch als Collector Francisco, ein Abgesandte der Kirche, ihr offenbart, dass sie als Opfer ausersehen wurde und sie zwingen will, ihm zum Sitz der Kirche nach Monte Flora zu folgen, gerät Alessandra in Panik und es kommt zum Kampf. Fest davon überzeugt, Francisco im Handgemenge getötet zu haben, flieht Alessandra zurück nach Nantala in der Hoffnung, von dort aus der Verfolgung durch die Kirche entgehen zu können. Doch der Komet schlägt auf der Erde ein und eine Nantala wird von der nachfolgenden Flutwelle vernichtet, als sie dort eintrifft. Gemeinsam mit Orlando und dem stummen Tormo flieht sie daraufhin in die Berge, um bei der 'Corona', gesetzlosen Rebellen, Schutz zu suchen.

Francisco, der knapp überlebt hat, ist nur noch besessen von dem Gedanken an Rache an Alessandra, die er für sein Versagen vor dem abwesenden Gott verantwortlich macht. Bald jedoch muss er erkennen, dass nicht Alessandra oder die Corona seine gefährlichsten Feinde sind. Eine alte Legende eine Monsters, die ihren Opfern den Atem raubt, scheint in den Straßen der Stadt grausame Wirklichkeit zu werden. In der von von Machtkämpfen und Intrigen zerrütteten Kirche findet er jedoch zunächst niemanden, der bereit ist, ihm zu glauben, und muss sich allein dem Kampf gegen einen unwirklichen Gegner stellen. Zu spät bemerkt er, dass er dabei nur ein Spielstein ist in einer Partie, bei der es um mehr geht als nur um Monte Flora.

Der Hauptmann Joacino kämpft derweil in der entfernten Provinz Ultima einen verzweifelten Kampf gegen ein übermächtiges Wüstenvolk. Was für ihn als ein Zug zur Neuschaffung des Imperiums beginnt entwickelt sich für ihn schnell zu einem Kampf auf Leben und Tod – und zu einer Lektion darüber, was Ehre und Loyalität wirklich bedeuten können. In einer Bergfestung stellt er sich schließlich an die Seite seiner Männer in einem Kampf gegen einen übermächtigen Gegner.

Parallel zu diesen Geschehnissen beginnt im hohen Norden die Geschichte des jungen Schamanen Seruun, der von seinem Stamm, den Sturmreitern, verbannt in die Wildnis hinaus zieht, um dort sein Schicksal zu suchen. Während seiner Wanderschaft aber entdeckt Seruun die Kraft, die in ihm ist, und kehrt mit der Vision zu seinem Volk zurück, ihm den Weg zu besseren Jagdgründen zu weisen. Dabei dringt er jedoch tief in das Gebiet des Imperiums ein, wo es zur Schlacht zwischen den Sturmreitern und den Truppen des Reiches kommt. An diesem Punkt kreuzen sich die Wege Franciscos, Alessandras und Seruuns, und mehr als ein Schicksal ändert seinen Weg grundlegend.

Wer Hennen kennt, wird wissen, was ihn an diesem Punkt erwartet. In jedem der einzelnen Handlungsstränge gelingt es ihm einmal mehr, die einzelnen Charaktere auf ihre ihnen eigene Art sympathisch zu machen, ganz gleich, wie verschieden sie auch äußerlich wirken mögen. Ohne viel Wert auf Pathos zu legen zeichnet Hennen seine Helden in einem sehr menschlichen Licht und versteht es gekonnt, dabei auch die verschiedenen, auf den ersten Blick unvereinbar erscheinenden Verhaltensweisen und Beweggründe nachvollziehbar zu machen. Wie so oft ist hier weniger mehr, und gerade weil die Charaktere alle nicht perfekt oder von Grund auf gut sind, aber dabei trotzdem so verständlich und nah erscheinen, personifiziert man sich nur um so mehr mit ihnen. Hier spielt Hennen aber seine Charaktere gezielt gegeneinander aus, Francisco Hass auf Alessandra, ihre kalte Entschlossenheit, alles für den Schutz ihrer Gefährten zu riskieren, wie auch Seruuns einziger Wunsch, das Überleben seines Volkes zu sichern, scheinen gleichsam richtig wie falsch zu sein.

Hennen gelingt es hier tatsächlich, sich von der linearen Erzählstruktur 'gewöhnlicher' Fantasyromane zu lösen und betritt mit seinem Teil der Gezeitenwelt gleichermaßen inhaltlich wie methodisch relatives Neuland. Das erscheint um so mutiger, als dass der Wahrträumer immerhin den Auftakt zu einem großen Projekt darstellen soll und Hennen hier das Risiko eingeht, einen Teil der Fantasygemeinde mit diesem doch sehr komplexen und – verglichen mit dem Großteil des Genres – anfordernden Schreibstil zu verprellen.

Tatsächlich liegt in den Vorzügen des Buches auch gleichzeitig seine eine große Schwäche. Grade weil die einzelnen Handlungsstränge und die einzelnen Teile der Gezeitenwelt, in denen sie spielen, dem Leser viel neues bieten und zu begeistert wissen wünscht er sich doch oft gerade dann mehr von dem (wieder) liebgewonnenen Helden, wenn Hennen wieder abrupt zu einem anderen Strang wechselt. Obwohl der Wahrträumer mit seinen über 600 Seiten sicher kein Leichtgewicht ist, fühlt man sich am Ende doch ein wenig unbefriedigt. Grade weil Hennen seine Charaktere mehr als die meisten anderen Autoren als authentische Menschen darzustellen weiß schmerzt es um so mehr, wenn man beispielsweise Seruun in seiner größten Notlage verlassen muss, um einen anderen Handlungsstrang zu verfolgen und später in einem kurzen Rückblick von dem Geschehenen zu hören. Sicherlich ist das ein Gesamteindruck, der sich je nach Leser auch nach 1000 Seiten noch hätte ergeben können, nichtsdestotrotz hinterlässt das Gefühl, etwas entscheidendes verpasst zu haben einen bitteren Nachgeschmack. Im Wahrträumer wird einfach zu viel neues, zu viel hintergründiges verarbeitet, als dass man als Leser wirklich voll und ganz mit der Geschichte zufrieden sein könnte.

Nichtsdestotrotz – auch wenn an dieser Stelle Kritik anklingt – der Wahrtäumer ist mit Sicherheit eines der Bücher, die dem Leser an erster Stelle den Eindruck vermitteln, ein wirklich großes Werk gelesen zu haben. Wer Hennen mag wird den Wahrträumer lieben, und vermutlich wird sich manch ein Leser, der sich nicht recht mit der Welt des Schwarzen Auges anzufreunden wusste, hier endlich das Licht am Ende des Tunnels sehen. Die Gezeitenwelt ist unkonventionell, kreativ und vor allen Dingen sehr vielseitig gezeichnet, sie ist in jeder Hinsicht anders als die 'normale' Fantasyliteratur, ob deutsch oder englisch. Hennen hat mit der Erschaffung dieses Buches eine denkbar schwere Aufgabe übernommen, denn vermutlich wird niemand den zweiten Teil einer Reihe lesen, von deren erster er enttäuscht wurde. Er hat dabei viel riskiert und viel gewonnen, der Wahrträumer kann dem Ehrgeiz des Gesamtprojektes doch trotz sicherlich vorhandener Schwächen in allen Belangen gerecht werden.

Ein besonderes Lob geht an dieser Stelle und in diesem Sinne übrigens an den Pieper-Verlag, der (wenn auch wohl erst nach besonderer 'Ermutigung' von Seiten der Autoren) wirklich ganze Arbeit geleistet hat. Der Wahrträumer ist rundum solide gestaltet, nicht allein aufgrund des einheitlichen und in angenehmer Weise schlichten Gesamtdesigns der Gezeitenwelt oder dem mittlerweile schon berühmten Runenrätsels auf dem Einband. Verzierte Borden an den Seitenrändern, ein sich komplettierendes Kartenmaterial der Gezeitenwelt im Buchdeckel und vor allen Dingen die gewohnt hochwertigen Illustrationen von Cayad erheben das Buch deutlich über den Standard. Roundabout erhält man einen Roman dieser Güteklasse im deutschen Buchhandel eigentlich nicht, und der mit 20 Euro absolut faire Anschaffungspreis verleiht endlich noch einmal das Gefühl, wirklich etwas fürs Geld bekommen zu haben.

Tja, ein Fazit ist an dieser Stelle selten schwer abzugeben. Zweifelsohne ist der Wahrträumer auf seine Art genial und für jeden, der sich in Hennens Art zu schreiben wiederfinden kann ein absolutes Muss. Gleichzeitig ist der Wahrträumer aber auch ein Schwergewicht unter den Fantasywerken, seine hohe Seitenzahl und vergleichsweise anspruchsvolle Geschichte scheinen, so weit es zu beobachten ist, auch den ein oder anderen Leser abgeschreckt zu haben. Auch sollte man sich vor Augen halten, dass die Gezeitenwelt vergleichsweise wenig mit der klassischen Fantasyliteratur gemein hat, womit sie vermutlich gleichermaßen für Teile der Fantasyfans uninteressant wird, wie sie für Nichtfantasyleser attraktiv ist. Um es auf einen Satz bringen: Das Buch verspricht, Eingangstor in eine so noch nicht da gewesene Welt zu sein – und wer sich auf den Wahrträumer einlässt wird nicht mehr und nicht weniger als eben dieses bekommen.


Bernhard Hennen{jcomments on}
632 Seiten Hardcover, Piper
ISBN: 3-492-70051-9