Orpheus - Haunting the Dead

Mit Traditionen bricht man nicht, besonders nicht, wenn man White Wolf heißt. Und so erschien im Sommer 2003 mit 'Orpheus' nicht nur erneut ein neues System für die World of Darkness (wenn es auch, im Angesicht der drohenden Apokalypse das letzte in der 'alten' WoD sein wird), sondern es wird auch von entsprechender Literatur begleitet.
Jedoch hat man bei Orpheus ja auch in allerlei Hinsicht etwas Neues gewagt. Während das System mit seinem abgeschlossenen Metaplot schon interessant genug ist, ist auch das Konzept, das dem vorliegenden Büchlein zu Grunde liegt, etwas bisher so noch nicht bei White Wolf gesehenes: eine Novellensammlung.
War bisherige WoD-Literatur immer entweder eine Kurzgeschichtensammlung (man vergleiche etwa das bei uns rezensierte "Truth Until Paradox" für Magus), Romanen (die Vampire hatten ein paar), Trilogien ("Horizon War", "Blood Curse" oder "Year of the Scarab") oder gleich kleinere ("Predator and Prey") oder wirklich große Zyklen ("Clan Novels"), doch Novellen gab es bisher noch nicht.
Vier davon haben es in "Haunting the Dead" geschafft, allesamt von Personen geschrieben, die Insidern durchaus bekannt sein können und gesammelt von Phillipe Boulle, der in ähnlicher Tätigkeit ja schon von der Demon-Anthologie "Lucifer's Shadow" her kennt.
Optisch gefällt das Buch direkt, mit einem das Buch umrahmenden wundervollen Cover von Christopher Shy und zumindest einem grundsätzlich vorhandenen Innendesign; das war hier ja nicht immer so.
Die Bindung ist mies, nicht völlig unter aller Sau, aber weit unter deutschem Standard, doch das Buch fällt nicht auseinander und hat dafür zumindest einen beständigen und kräftigen Druck spendiert bekommen.
"Noch befriedigend" auf der Schulskala, denke ich.

Aber wenden wir uns den Geschichten zu. "The Grass Is Always Greener" von Stefan Petrucha eröffnet den Reigen. Petrucha hat die WoD bereits um die Dark Ages: Assamite bereichert, ist sonst vor allem auf dem Comicmarkt tätig, bietet dort alles von über einhundert dänischen Mickey Mouse-Geschichten über die 'X-Files'-Comics bis hin zu einigen Reihen, die in dem mit White Wolf zusammen arbeitenden Verlag Moonstone erschienen sind.
Seine Geschichte handelt von einer Gruppe Jugendlicher, die sich bei einem Außenseiter ihres Jahrgangs, Martin Kleck, treffen, der ihnen dafür eine neue Droge zum Test angeboten hat. Anwesend sind Jobe, der klassische Held des Football-Teams ohne Hirn, Bilka, seine russische Freundin, Alex, einen ziemlichen Freak sowie die eigentliche Bezugsperson des Lesers, Shutty. Shutty ist ein Goth-Mädel, hasst die Welt, spottet über alles und jeden und blickt vor allem stets auf ihr Umfeld herab … was ihre Gedanken sehr amüsant zu lesen macht.
So wartet die Gruppe dann auf "den richtigen Zeitpunkt", auf den Kleck besteht, an dem sie dann, auf dieser neuen Droge namens 'Pigment' schwebend, echte Geister sehen können sollen. Nun, wer die WoD kennt, der kann schon denken, dass sie dabei Erfolg haben werden, doch wohl auf eine Art und Weise, die keiner erwartet hat.
"The Grass..." ist ein guter Einstieg in die Anthologie. Er ist nicht überragend, sicherlich nicht wirklich literarisch zu nennen, doch er liest sich gut, atmosphärisch und stimmt gut auf das Thema ein. Zudem ist es auch Shuttys Freude am Spotten sowie viele Popkultur-Referenzen, die die Lektüre amüsant machen. Die Konsequenz, in der sie vor allem Bilka ('Bilbo') und Jobe ('Jobe the Builder') ins Kreuzfeuer nimmt, gefällt, ebenso wie Petruchas Schreibstil. Alleine seine Eröffnung ist die Lektüre fast schon wert, denn der erste Satz lautet: "The pizza was dead to begin with."

"Eurydice" stammt aus der Feder des bisher WoD-fremden Seth Lindberg, der aber im allgemeinen Horrorsektor bereits aus diversen Anthologien und Web-Zines bekannt ist. Der Titel deutet bereits an, dass hier irgendwie der 'echte' Orpheus-Mythos mit hineinspielen wird, reiste der mythologische Orpheus doch ins Reich der Toten herab, um dort seine geliebte Eurydice zu retten.
Doch zu offensichtlich baut Lindberg diesen Mythos gar nicht in seine eigene Handlung ein – auch wenn einer seiner Charaktere ihn selbst noch mal erzählen darf. Träger der Handlung ist Anders, ein Agent der hier nun offensichtlich agierenden Orpheus-Gruppe, die in der Lage ist, Menschen von ihren Körpern auf verschiedenem Wege zu befreien und so zeitweilig ins Reich der Geister eintreten zu lassen. Anders ein solcher Agent, ebenso wie seine große Liebe Lila.
Als Lila jedoch von einem Einsatz nicht wiederkehrt, wird er skeptisch. Irgendetwas scheint vorgefallen zu sein, etwas, von dem die Gruppe nicht will, das es erst mal jeder erfährt. Anders, ohnehin schon fast wahnsinnig vor Zweifel, was aus Lila geworden ist, erhält zudem mysteriöse Nachrichten, dass ein Geist Jagd auf Orpheus machen solle.
Nicht bereit, dies alles untätig passieren zu lassen, schnappt er sich Ben, Lilas Einsatzkollegen, sowie einige weitere Kontakte und macht sich selbst auf die Suche nach Hinweisen zu diesem geheimnisvollen Jäger.
Lindbergs Geschichte ist eine klassische Konspirationstheorie, über das Vertuschen von unangenehmen Zwischenfällen und einigen 'Helden', die das nicht so hinnehmen wollen. Doch ist sie gut geschrieben, vor allem Anders' Seelenleben bekommt entsprechend viel Raum gewährt und gefällt, doch auch die anderen Charaktere gefallen.
Die Auflösung ist dann vielleicht etwas schwach, das Finale an sich aber sehr gut und zeigt zudem, wie der Spiel-Slogan "Don't Look Back" sich zeigen kann.

Die dritte Geschichte des Bandes ist zugleich die Schwächste: "Dia de los Muertos" von Allen Rausch. Rausch ist eigentlich eher Journalist, bekannt aus Quellen wie GameSpy oder der PC Gamer. Er arbeitet zwar auch für White Wolf, ist aber nun nicht wirklich einer der üblichen Verdächtigen an dieser Stelle.
Das Thema seiner Novelle steckt ja schon im Titel, die Geschichte spielt rund um den mexikanischen Tag der Toten. Die Banshee Eileen Savitch und der Skinrider Teo, beide im Dienste Orpheus', reisen nach Guadalajara, da dort die Bauunternehmung einer gewissen Laura Arguelles und ihrer Tochter Zoia von einem Geist heimgesucht zu werden scheint, dem Geist ihres Mannes, den sie selbst unter die Erde brachte.
Im Folgenden müssen Eileen und Teo einen wilden Ritt durch die mexikanische Totenmythologie hinter sich bringen, um diesem Rätsel respektive diesem Missstand auf die Spur zu kommen.
Leider ist die Geschichte dabei bei weitem nicht so faszinierend wie die Thematik es hergäbe. Die Charaktere sind eigentlich alle flach und unzureichend dargestellt, die mythologischen Elemente viel zu sehr als Selbstläufer und zum Selbstzweck eingebaut und die Geschichte selber spannungsarm und schlichtweg nicht fesselnd.

Vertröstet wird man dafür dann mit der vierten Geschichte, "Corridors" von Rick Chillot, welcher vor allem Fans von 'Hunter: the Reckoning' und 'Demon: the Fallen' schon untergekommen sein dürfte.
Geschildert wird etwa ein Tag in den Mauern des Blue Palace Hotels. Verschiedene Personen, tot wie lebendig, gehen darin umher, sich mehr oder minder darüber im Klaren, welcher Gruppe sie jetzt eigentlich angehören. Seltsame dunkle Kräfte jedoch fallen langsam in der Geisterwelt über das Hotel her, in dessen Gängen sich ein Großteil der Handlung abspielt.
Die Geschichte ist, sofern man das über eine Stück Text sagen kann, einfach wie ein Trip in einen irrsinnigen Verstand. Auf den immer gleich scheinenden Fluren des Hotels bewegen sich die Personen, mysteriös und verschlossen einige, irrational gefährlich wirkend die anderen, umgeben von dieser kaum greifbaren Dunkelheit, die sich langsam ausbreitet.
Der eigentliche Träger der Handlung, Ed Lighthouse, ist einmal mehr Mitglied bei Orpheus, doch auch er versteht nicht, was um ihn herum geschieht und fühlt sich ebenso verloren wie alle anderen dort auch.
Das geradezu geniale an der Geschichte ist jedoch der Stil, den Chillot gewählt hat. Im Präsenz verfasst, springt die Erzählperspektive im Schnitt einmal pro Seite von Ort zu Ort, Charaktere zu Charakter und zuweilen auch von Zeitebene zu Zeitebene. Nach und nach entfalten sich die Puzzleteile vor dem Leser, nur nicht in der Reihenfolge, in der er sie jetzt gerne hätte.
Dennoch verliert man niemals wirklich den Überblick, sondern versteht halt nur einige Ereignisse immer erst zurückblickend, wenn man später das nötige ergänzende Puzzlestück erhalten hat.
Dadurch wird "Corridors" meines Erachtens auch zur besten Geschichte der Sammlung, denn wo die beiden guten und die eine mittelmäßige Novelle bisher jeweils nur Menschen in Interaktion oder in Kontakt mit der Geisterwelt beschrieben haben, beschreibt "Corridors" den Aufenthalt dort.
Diese Welt wirkt fremd, wie auch die Charaktere und durch die wechselnden Perspektiven wird auch keiner davon ausgenommen. Die Lektüre der Geschichte macht einfach Freude und Lust darauf, sich auch sogleich ins Spiel zu stürzen.
Definitiv beide Daumen hoch für diese hier!

Insgesamt kann man festhalten, dass "Haunting the Dead" eine überdurchschnittlich gute Sammlung geworden ist. Die Anthologie bietet zwei durchaus gute und eine wirklich herausragende Geschichte und mit dem "Dia de los Muertos" auch nur einen negativen Teil, so das man – wenn man sich für das Setting interessiert – für seine 6,99 US-$ durchaus eine verdiente Gegenleistung erhelt.
Ein Wort der Warnung noch zum Schluss: weder bietet einem "Haunting the Dead" einen wirklichen Überblick, was das System 'Orpheus' insgesamt ist, sondern illustriert nur Teilgebiete, noch ist die Anthologie ganz Spoiler-frei, weshalb sie sicherlich in den Händen einen Spielleiters deutlich besser aufgehoben ist.


Phillipe Boulle (Hrsg.), Stefan Petrucha, Seth Lindberg, Allen Rausch, Rick Chillot
Orpheus: Haunting the Dead 
288 Seiten Softcover
White Wolf {jcomments on}
ISBN: 1-58846-837-2