Dahlquist, Gordon: Die Glasbücher der Traumfresser

Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich schlenderte durch die Buchhandlung ohne bestimmtes Ziel, schaute nach hier, schaute nach da, und plötzlich fiel mein Blick auf ein eigenartiges Produkt: Ein einzelner Roman, aber aufgeteilt auf zehn schlanke Taschenbücher in einem wunderschönen Schuber, alles sehr auf viktorianisch getrimmt. Und auf dem Backcover der Hinweis: „Zehn komfortabel zu lesende Bände für die schlanke Damenhand und für den Herrn auf Reisen.“
Der Autor – Gordon Dahlquist – sagte mir nichts. Mittlerweile ist mir klar warum, denn der ist vor allem Theaterautor und das vor mir liegende Buch – Die Glasbücher der Traumfresser – ist sein Erstling.
Ich musste es haben.

Es war wie gesagt Liebe auf den ersten Blick. Aber wie es oft passiert bei derartigen Konstellationen, so ist dann doch noch recht viel Zeit vergangen, bis das hübsche Ding und ich was miteinander angefangen haben. Heute aber weiß ich zu berichten, dass auch die inneren Werte hier durchaus gefällig geraten sind.

Doch holen wir etwas weiter aus:
Die Glasbücher der Traumfresser erzählt eine Geschichte, jedoch abwechselnd aus den Perspektiven dreier sehr unterschiedlicher Figuren. Es beginnt mit einer jungen Frau namens Miss Temple, die sich aufmacht, einer Ungeheuerlichkeit nachzugehen, denn just zu Beginn des Buches beendet ihr Verlobter, Roger Bascombe, ihr Verhältnis mit einem formellen Schreiben vollständig. Überzeugt, dass es nicht an ihr liegen kann, folgt Miss Temple ihrem nun ehemaligen Verlobten also, um jedoch bald festzustellen, dass es vielleicht nicht ihr klügster Moment war. Und ehe sie sich versieht ist sie in ein Komplott verwickelt, dass nicht nur ihr Leben, sondern zugleich auch ihre Tugendhaftigkeit arg in Bedrängnis bringt.

Zwei weiteren Figuren geht es ähnlich. Kardinal Chang ist weder Kirchenmann noch Asiate, wohl aber Auftragskiller. Ein Auftrag allerdings misslingt ihm ganz redlich und das führt nicht nur dazu, dass sein Weg und der von Miss Temple sich kreuzen, sondern auch, dass zahlreiche Personen beginnen, nun ihm nach dem Leben zu trachten.
Und zuletzt ist da Dr. Abelard Svenson, Leibarzt des mecklenburgischen Prinzen Karl-Horst von Maasmärck, der vor allem ein Problem hat – die Abwesenheit seines Prinzen. Doch ihm ergeht es wie den anderen und ehe er sich versieht, steckt er bis zum Hals im Ärger.

Man merkt schon an dieser Zusammenfassung die eine oder andere Eigenheit des Romans. Zunächst die eigenwilligen Namen, die hiermit beileibe noch nicht ihren Höhepunkt erreicht haben. Ob nun der Comte d’Orkancz oder die Contessa di Lacquer-Sforza, oder klangvolle Namen zwischen Blenheim und Vandaariff, irgendwie schafft man es einfach nicht, den Finger auf die von Dahlquist – seinerseits Amerikaner – inszenierten Herkünfte zu legen.
Doch das ist nur ein Mosaikstein eines Gesamtwerks, das für mich eine der faszinierendsten Alternativ-Welten historischen Anklangs bildet, der ich je begegnet bin. Das Setting ist viktorianisch, driftet auch mehr als ein Mal gen Steampunk ab und kratzt bisweilen an der Phantastik im weiteren Sinne wie auch an der Schauerromantik, ohne diesen Bogen jedoch zu überspannen. Die Welt ist schon irgendwie unsere, sonst wäre Mecklenburg als Ort nicht so präsent, und die Namen legen teils eine Handlung in England nahe, aber wirklich greifen lässt sich nie, was der Autor hier erschafft.

Die Geschichte faszinierte mich dabei vom ersten Satz an, steigerte sich aber zunehmend weiter. Die Untergliederung in Einzelbände – ein Vorzug der Schuberausgabe, neben der es auch ein Taschenbuch gibt – ergibt erstaunlich viel Sinn, endet doch mit jedem Buch auch die Perspektive der entsprechenden Figur und somit auch ein Handlungsabschnitt. Gewissermaßen sind es Kapitel, aber zugleich verstärkt es nur noch den regelrechten „Pulp“-Charme der Geschichte, indem man wirklich das Gefühl hat, Groschenromane zu lesen.
Der Roman zieht dabei auch nahezu alle Register seiner verschiedenen Genres. Es wird sehr viel mit Maskenball- und allgemein Maskierungs-Elementen gearbeitet, es geht auch um Etikette, Benimm- und Höflichkeitsformen selbst im Antlitz größter Gefahren und dabei zugleich um viele, viele Intrigen und Intrigen innerhalb der Intrigen.

Zudem, das verdient in dem Maße, wie es auftritt, durchaus Erwähnung, geht es in Dahlquists Buch um Gelüste. Viele Elemente der Verschwörung, um die sich alles dreht, sind auf die eine oder andere Weise an Verlangen gekoppelt und dekadente Entgleisungen, teils unanständig, teils frivol, teils auch pervers, säumen den Pfad, den die Protagonisten beschreiten müssen.
Teils recht explizit. Wer also mit derartigen Themen nicht gerne konfrontiert wird, der sollte um das Buch einen ziemlich weiten Bogen schlagen. Wer aber durchaus aufgeschlossen ist, der bekommt ein paar der bemerkenswertesten Helden und Schurken präsentiert, die mir seit langem untergekommen sind – und zwar nicht zuletzt, gerade weil hier der Konflikt zwischen dem, was sich geziemt, und dem, wonach es gelüstet, vor dem pseudo-viktorianischen Hintergrund stark inszeniert wird.

Bemerkenswert ist auch, dass die Geschichte in sich abgeschlossen ist. Man könnte entweder argumentieren, dass Fragen offen bleiben, oder aber, dass Dahlquist halt zwar die Motivationen, nicht aber zwingend die Mechanismen aller Vorgänge aufschlüsselt, Fakt ist aber, dass das Ende auch wirklich ein Ende ist.
Umso erstaunlicher, dass im vergangenen Jahr auf Deutsch (und schon 2008 im Original) ein Nachfolger erschienen ist, Das Dunkelbuch. Gerade aber weil Die Glasbücher der Traumfresser eigentlich wenig Ansatz bietet, fortgesetzt zu werden, werde ich dem vorerst keine weitere Aufmerksamkeit schenken.
Aufmerksamkeit verdient hat hingegen die Übersetzung von Bernhard Kempen. Kempen ist nicht irgendwer und hat beispielsweise auch das von mir hier sehr gelobte Krieg der Klone von John Scalzi sowie zwei Pratchetts ins Deutsche übertragen. Die Sprache ist phantastisch, auch schwierigere Redewendungen haben perfekt den Sprung in unsere teutonische Zunge vollbracht und insgesamt vergäße man leicht, überhaupt eine Übersetzung zu lesen, wenn nicht gelegentlich die absolut abstrusesten pseudo-deutschen Namen auftauchen würden.

Das Feuilleton hat sich große Mühe gegeben, bei Erscheinen schon zu betonen, wie erfolgreich das Buch sei, was vermutlich auch daran lag, dass die Rechte in einer völlig irrationalen, scheinbar von Wettbieten gezeichneten Auktion für atemberaubende zwei Millionen Dollar einen Besitzer fanden. Dennoch kann man nicht behaupten, dass das Buch ein kommerzieller Erfolg war, weder in Deutschland noch in Amerika, wo die Erstauflage ein Loch von über 850.000 Dollar in den Kassen hinterließ. Ich nehme an, die bedeutend lieblosere Aufmachung von Nachfolger wie Taschenbuchausgabe sind letztlich auch darin begründet; wer aber den vollen Genuss des vorliegenden Romans haben will, der sollte sich an den üblichen Orten für oft ein unverdient niedriges Sümmchen die Schuber-Variante ergattern. Definitiv eine Zierde für bibliophile Menschen und ein Titel, auf den mich allein wegen der Aufmachung in der Vergangenheit auch mehrfach Leute angesprochen haben, wenn sie ihn in meinem Regal sahen.

Kann ich Schlechtes über das Buch sagen?
Wenig. Es ist ungewöhnlich, manchmal etwas eigensinnig, die Dramaturgie ist ungewohnt, die Namen völlig abstrus und der Inhalt stellenweise eher ein Fall für das Nachtprogramm. All das kann man sicherlich als Gegenargumente werten, mir hat es nur umso besser gefallen.
Die Glasbücher der Traumfresser war der erste Titel, den ich in diesem Jahr ausgelesen habe. Sollte die Qualität so weitergehen, kann ich mich auf ein Fest einstellen, denn Dahlquists Debüt konnte mich von der ersten bis zur letzten Seite rundum begeistern!

Und wie sagt das Backcover des ersten Bandes so schön?
„Von einem Abenteuer zu lesen ist weitaus respektabler, als selbst eines zu erleben.“


Titel: Die Glasbücher der Traumfresser
OT: The Glassbooks of the Dream Eaters
Autor: Gordon Dahlquist
Verlag: Blanvalet
ISBN: 973-7645-0278-2
Seitenzahl: 894 Seiten in zehn Taschenbüchern in einem Schuber
Sprache: Deutsch
Preis: 24,95 Euro{jcomments on}