Samjatin, Jewgenij: Wir

Unser heutiges Rezensionsobjekt müsste eigentlich ein Klassiker sein. Doch wie auch bei einigen anderen Autoren im phantastischen Sektor ist auch der Russe Samjatin mittlerweile weit weniger bekannt als seine Nachfahren. Das ging Leonard Cline so, der heute deutlich hinter seinem damals wesentlich unerfolgreicheren Zeitgenossen H.P. Lovecraft zurückstecken muss. Das geht Kurt Lasswitz so, der lange Zeit im Schatten Hans Dominiks verloren ging. Und letztlich geht es eben auch dem Russen Jewgenij Iwanowitsch Samjatin so, der heute fast vergessen ist und doch mit „Wir“ die Grundlangen für Huxleys „Brave New World“ und Orwells „1984“ schuf.

Seine Leistung kann man kaum hoch genug schätzen. „Wir“, das aus Zensurgründen erst in zahllosen anderen Ländern erschien, bevor es seinen Weg in Samjatins Heimat schaffte, ist nichts Geringeres als die erste Dystopie, oder richtiger, Negativ-Utopie der Literaturgeschichte. Zweifelsohne als Vehikel für weitreichende Sozialkritik gedacht, entfernte sich hier erstmals ein Schriftsteller von der Zukunftseuphorie und -phantasie seiner Vorgänger und entwickelte, lange vor der kapitalistischen Rationalisierung in Amerika und dem Stalinismus im Osten, ein totalitäres Herrschaftssystem, das alle Menschlichkeit zu Gunsten einer festen Ordnung ausblendete.

Protagonist und Ich-Erzähler der Geschichte ist D-503. Ein kluger Kopf und bekennender Vertreter des Systems, des Einen Staates, den der sogenannte „Wohltäter“ einst eingesetzt hat und der nun alles Leben nach den Regeln von Mathematik und Ordnung organisiert. Selbst das unordendlichste Element des Menschen, die Liebe, ist streng rationalisiert, es wird ein Triebpotential für jeden Bürger bestimmt und als Maß zur Ausgabe von rosa Bons genutzt, die man für Stunden der Zweisamkeit ausgeben kann. „Wie das Trinken eines Glases Wasser“ ist dies ein notwendiges Übel für die Menschen der Zukunft.
D-503 entwirft die Weltraumrakete Integral und ist daher sogar ein ganz besonders wichtiges Element des Systems. Doch es gibt ein Problem, D-503 ist „krank“. Denn, so heißt es, bei ihm „hat sich eine Seele gebildet“. Verantwortlich dafür ist die Frau I-330, die ihm gehörig den Kopf verdreht. Denn was er für sie empfindet ist plötzlich mehr als das, was er in dem geregelten Verkehr mit der ihm zugeordneten O-90 bisher erlebt hat.
Immer mehr rutscht er aus dem System und aus ersten, kleinen Verstößen werden mehr, bis er aus dem festen Apparat fällt und auf einen Kurs geht, an dessen Ende eigentlich nur Revolution oder Tod stehen können.

Samjatins Buch bietet viele Versatzstücke, die man so dann später auch bei Huxley oder Orwell wiederfinden kann. Der „Wohltäter“ ist klar erkennbar der Prototyp des „Großen Bruders“ aus 1984, während hier durch Operation wider den Gefühlen die Art von Gefügigkeit zu erwirken versucht wird, wie man sie auch in „Brave New World“ mit den Drogen zu erschaffen versucht.
Doch „Wir“ bietet weit mehr und wurde, anders als viele andere Texte, nicht wirklich von seinen Ahnen in seiner Gesamtheit fortgeführt. Gerade die Mathematik als großes, unterlegtes Thema der Handlung ist in dieser Form auch heute noch neuartig und macht das Buch alleine sprachlich zu etwas Besonderes.
Der Roman erschien erstmals 1925, wurde fünf Jahre davor geschrieben und doch liest er sich auch heute noch elegant und frisch. Das liegt an seiner eigenwilligen Form der Metaphorik. D-503 denkt in sehr mathematischen Begriffen, was bedeutet, dass eine gleichmäßiges Gesicht ihn an eine Sinuskurve erinnert und auch seine Argumentationen auf dieses System aufbauen. Samjativ vermeidet dabei sicher ein Eindringen in zu komplexe, mathematische Welten, schafft es aber doch, das Ganze als glaubhaftes Denkschema zu präsentieren.
Schön ist beispielweise die Stelle, an der D argumentiert, es dürfe keine weitere Revolution geben, denn der Eine Staat sei doch durch die Letzte Revolution begründet worden. Man weist ihn auf die Unendlichkeit der Zahlen hin und dass es daher doch auch keine letzte Revolution geben könne. Für D bricht daraufhin (einmal mehr) sein Weltbild kräftig ein.

In diesem Sinne gelingt Samjatin aber noch etwas ganz Besonderes mit seiner Geschichte. Die Menschen der Zukunft kennen bei ihm wirkliche Liebe gar nicht und wie ein Kind, dass das Neue noch fremd begreift, so lernt auch D-503 dieses Gefühl im Laufe des Romans erstmals kennen. Und besser als jeder Jugendroman, jede Liebesgeschichte und jede Romanze, die ich kenne, gelingt es dieser Dystopie, dieses Gefühl in Worte zu kleiden. Die Unbeschreiblichkeit des Ganzen durch das rational-mathematische Referenzsystem des Erzählers vermittelt hier einen einmaligen Eindruck.

Jewgenij Samjatin war ein herausragender Visionär. Was der bereits 1937 verstorbene Schriftsteller hier mit seiner „gläsernen Stadt“ beschreibt wirkt 2006 noch immer unglaublich passend. Die Spione des Einen Staates, die überall zu lauern scheinen, könnten genauso die Stasi verkörpern, wie die operative Entfernung der Emotionen des Menschen fast wie eine Weiterentwicklung der Marschrichtung des Patriotic Act erscheinen kann.
Samjatin war gleichermaßen ein guter Schriftsteller, der wusste, wie er seine Worte zu setzen hatte, um den Leser zu fesseln und dessen Aufmerksamkeit in seine Geschichte zu bannen.
Zuletzt ist Samjatin Vorbild für einen ganzen Zweig der Genreliteratur, denn ohne ihn wären die klassischen Dystopien, „Fahrenheit 451“ wäre da sicher noch zu nennen, nie entstanden. Und wo ohne diese wiederum die gesamte, moderne Science Fiction wäre, kann nur spekuliert werden.

Vor mehr als einem Jahr habe ich an dieser Stelle H.G. Wells‘ „Von kommenden Tagen“ (1933) besprochen. Samjatin hat Wells sehr geschätzt und doch etwas geschafft, was ich jenem Text noch abgesprochen habe: Er paart eine großartige Zukunftsvision, die heute noch nachvollziehbar ist, mit wundervoller Sprache, einer guten Handlung und unglaublich dicht geschilderten Emotionen – ein Buch, das Pflicht sein sollte.
Einzig ewige Optimisten sollten Samjatins Buch vielleicht nicht erwerben, denn ein Wells‘sches Zwangs-Happy End sollte man von dem Russen nicht erwarten.
Trotzdem: „Wir“ ist eines der großartigsten Bücher, die ich dieses Jahr bisher gelesen habe.


Jewgenij Samjatin{jcomments on}
Wir
224 Seiten Softcover
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 3-462-01607-5