Wells, H.G.: Von kommenden Tagen

Wenn mir jüngst einer erzählte hätte, dass es geistige Wurzeln der dystopischen Science Fiction (um mal unelegant die Einschränkung auf „Cyberpunk“ gemäß Gibson zu vermeiden), die bis an den Anfang des letzten Jahrhunderts zurück gehen, dem hätte ich vermutlich nicht geglaubt. Genau genommen habe ich ihm nicht geglaubt, denn der jemand war mein Ko-Rezensent Scorpio, der das vorliegende Büchlein auch gelesen hatte.

Und tatsächlich, H.G. Wells, bekannt wohl vor allem durch seine „Zeitmaschine“ und „Die Insel des Dr. Moreau“, hat mit „Von kommenden Tagen“ ein faszinierendes Stück Literatur hinterlassen. Die Geschichte ist 1933 erschienen und damit definitiv aus seiner späten Schaffenszeit, hat Herbert George Wells doch von 1866 bis 1946 gelebt. Dennoch scheint 1933 für uns nun schon wahrlich lange zurück zu liegen und die Zeugen jener Zeit werden bekanntlich auch langsam weniger. Umso überraschender ist es, wie gelungen Elemente seiner Erzählung geraten sind.

So gibt es hier Varianten von Massenkommunikation, fliegende Busse (die auch nicht weit von einem Luft-, also Air Bus entfernt wären) und eine gewisse, durch den Fortschritt entstandene Dekadenz, die einem zwar auch heute noch überzogen, aber im Kern schon glaubwürdig erscheint. Natürlich verkalkuliert sich Wells auch in vielem. Was er als mögliche Mode der Zukunft beschreibt ist zu abstrus, um sich je durchsetzen zu können und Schallplatten sind ja nun auch eher schon eine längere Weile vom Massenmarkt verschwunden. Wichtig aber ist: das Gesamtbild ist stimmig.
Schön sind daher auch viele kleine Details, die er einbaut. Etwa die Bemerkung, die Sprache habe sich so stark weiter entwickelt, dass ein Mensch der heutigen Zeit sie vermutlich kaum mehr verstehen würde. Das ist nur realistisch und stimmt ja auch bezüglich der Sprachformen aus uns voran gegagenen Jahrhunderten zu. Oder auch die Idee, dass sich reiche Menschen sich fiktive Erlebnisse per Hypnose verpassen lassen ist zwar in der methodischen Umsetzung heute unglaubwürdig, aber die Nähe zu Konzepten wie ‚SimSinn‘ oder Dicks „Erinnerungen en gros“ ist frappierend.
Und natürlich gibt es auch eine Unterschicht. Eine Arbeiterklasse, die abseits des Wohlstands der Noblen verwildert und, naja, eigentlich mehr so haust wie manche Menschen heute. Eine Art urbaner Alptraum mit einem als Teufelskreis fungierenden Konsumdiktat, welches ein harter Bruch ist mit der illustren Scheinwelt der Oberklasse. Auch dieses Motiv sollte später noch sehr oft Verwendung finden.

Weiterhin eine Auszeichnung von „Von kommenden Tagen“ ist es aber auch, dass hier nebenher auch noch eine Geschichte erzählt wird, eine Liebesgeschichte sogar. Diese Liebe, zwischen zwei Menschen, die nicht füreinander bestimmt waren, hält der dargestellten Gesellschaft gleich in mehrerlei Hinsicht den Spiegel vor.
Einerseits wird hier natürlich ein Schicksal gezeigt von jenen, die nicht an die Normen glauben und daher durch die Maschen des sozialen und pseudomoralischen Netzes fallen. Wells baut das geschickt auf, lässt bis zu einem gewissen Punkt nicht einmal die zivilisatorische Schattenseite durchscheinen, trifft den Leser dann aber umso unvermittelter.
Andererseits träumen diese beiden wiederum davon, in „der guten alten Zeit“ zu leben und demonstrieren so wiederum, dass die Ideale dieser „schönen neuen Welt“ ebensowenig mit unserer Zeit vereinbar sind wie umgekehrt. Ein recht eleganter Trick, aus „Von kommenden Tagen“ auch gleich eine kleine Parabel zu machen.

Dennoch gibt es so seine Gründe, warum der Roman nie den Ruhm anderer Geschichten des Autors erreicht hat. Neben der allgemein nicht wirklich hohen Spannungskurve der Geschichte, was für ein Liebesdrama okay ist, aber nicht jedem Leser genügt, ist da vor allem der Schluß zu nennen.
Ich habe es selten erlebt dass derart spürbar wurde, dass offenbar auch der Autor nicht mehr wusste, wie er die Handlung nun zu Ende bringen wollte. Als feiert ein seit mehreren dutzend Seiten nicht mehr aufgetauchter Charakter sein Comeback, wird zum großen Schurken stilisiert und beißt dann, deus ex machina in Reinkultur, binnen weniger Seiten an einer zuvor ebenfalls nocht nicht erwähnten Krankheit ins Gras.
Das ist dann schon wirklich sehr unbefriedigend, denn was bis dahin eine nachvollziehbare Geschichte war, verkommt so zur Schmierenoper. Waren es zuvor die gesellschaftlichen Umstände, die das Schicksal der Protagonisten bestimmten, gibt es da plötzlich eine Personifikation. Mehr noch: einen Feind. Das komplette letzte Viertel der Handlung kommt dann, bis auf die letzte Szene, sogar ganz ohne die Protagonisten aus und gibt sich nur alle Mühe, eine Rettung für sie zu konstruieren. ‚Konstruieren‘ hier im schlechtesten aller möglichen Sinne.

Ein Fazit fällt mir daher auch ungeheuer schwer. Einerseits schilder Wells in „Von kommenden Tagen“ ein faszinierendes Zukunftsmodell das, gerade an seiner Herkunftszeit gemessen, ungeheuer fesselnd und nachvollziehbar geraten ist. Leider aber kann der Roman als solcher, als Handlung, diesem Anspruch nicht genügen und ersäuft am Ende recht unrühmlich in seinem deus ex machina.
Wer Science Fiction mag, sollte den Text lesen, alleine, weil er von einem der wenigen wirklichen Wegbereiter der Gattung stammt. Cyberpunk-Fans sollten ihn vielleicht mal lesen, um zu erkennen, dass auch ein William Gibson mit seinem „Neuromancer“ sich nicht alles aus der Luft heraus ausgedacht hat.
Fans von guter Unterhaltungsliteratur aber sollten sich die Investition überlegen, da der dünne Band mit seinem Preis von 8,50 Euro eigentlich doch zu teuer ist, um im letzten Viertel so zu scheitern.


H.G. Wells
Von kommenden Tagen{jcomments on}
144 Seiten Softcover, DTV
ISBN: 3-423-13299-X