Staffel, Tim: Terrordrom

Der Jahreswechsel zum Jahr 2000 steht bevor, doch Berlin liegt im Chaos. Unerbittlich fällt Schnee, die Temperaturen sind niedrig und langsam gerät die Situation in der Stadt außer Kontrolle. Die überlastete Polizei kann neben dem Katastrophenschutz kaum noch anderen Aufgaben nachgehen und so erheben sich, nach und nach, die radikalen Elemente aus dem Untergrund, von ganz weit links wie ganz weit rechts. Terrordrom nun beschreibt die Geschicke einer ausgewählten Zahl von (anfangs) voneinander weitestgehend unabhängiger Einwohner der immer mehr zum anarchistischen Szenario werdenden Stadt.

"Terrordrom" war der erste Roman des Schriftstellers Tim Staffel. Doch das Buch des in Kassel geborenen und in Berlin lebenden studierten Theaterwissenschaftlers schlug deutlich Wellen.
Seine Erzählung ist vom Stil wie auch vom Inhalt her sehr bemerkenswert geworden.
Stilistisch fällt einem sofort die durchgängige Ich-Perspektive auf. Diese ist jedoch nicht auf einen einzelnen Charakter beschränkt, sondern man springt sozusagen zwischen den Innenleben der einzelnen Charaktere hin und her.
Das Innenleben ist dabei wörtlich zu nehmen, denn der kurz angebundene Stil ist komplett im Präsenz gehalten und vermittelt dadurch, besonders in Kombination mit den meist nur aus kurzen Hauptsätzen aussagen eine sehr fesselnde Wirkung, wirklich, als lese man die Gedanken all der handelnden Personen.

Das unterstreicht auch die inhaltlichen Besonderheiten Staffels Werk. Wie so viele Romane schildert auch dieser die Untergangsstimmung vor der Jahrtausendwende, doch geht es hier weder um religiöse Prophezeiungen noch andere irrsinnigen Theorien, hier sind es alleine die Menschen, die zu diesem Untergang führen.
Denn in Staffels Berlin gibt es schlicht keine sympathischen Menschen. Jeder einzelne handelnde Charakter dieses Romans sucht sein eigenes Glück, versucht doch nur in den Wirren seinen Anteil an der Torte zu vergrößern sowie die Stücke, die er schon hat, entsprechend zu verteidigen.
Da wäre etwa Tom, ein Talkshow-Host, der versucht, die Wirren in Berlin für seine Karriere zu nutzen. Anna, seine Frau, die zumeist Prügel bezieht und sich eine Affäre flüchtet, Felix, ihr gemeinsamer Sohn, der ebenfalls langsam in die Welt des Terrors hinab sinkt und viele weitere mehr.
Insgesamt sind es vielleicht zehn handelnde Charaktere und ein, zwei Nebencharaktere – und keiner davon entwickelt sich an irgendeiner Stelle mal zu einem Sympathieträger. Niemandem von ihnen möchte man mal in der Realität begegnen, sei es nun einfach auf der Straße bei den gewalttätigeren Fällen oder auch im sozialen Umfeld im Falle der Charaktere, die über einen Großteil des Buches hinweg versuchen, die richtigen Fäden zu ziehen. Sind sind egoistisch, sadistisch, zynisch und pervers, einige auch einfach nur gnadenlos verrückt.

Um einen Eindruck zu bekommen sei hier einfach mal ein Absatz zitiert, der für recht symptomatisch für Charakterzeichnung wie Schreibstil betrachtet werden kann:
"Ich sehe die Post durch. Tom versetzt mich in eine andere Redaktion. Er hat kein Recht, mich abzuschieben. Er weiß das. Ich lese noch einmal. Ich werde versetzt. Eine andere Redaktion. Ich lösche seine Notizen. Ich gehe zu ihm. Er beachtet mich nicht. Ich frage ihn, ob er ein Schwanzproblem hat. Er sagt, dass er keine Zeit hat. Ich lache. Er will nicht, dass ich lache. Ich sage, dass er vierundzwanzig Stunden Zeit hat, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Dass ich ihn heute Abend bei mir erwarte. Er nickt. Ich nehme meine Sachen und verlasse das Redaktionsgebäude."

Die einzige "Identifikationsfigur", wenn man es so nennen will, ist für den Leser da eher die Stadt selber, die es auf wundersame Weise schafft, die Wege dieser Charaktere immer wieder zu kreuzen, sei es nun persönlich oder nur durch die Wellen, die einige Aktionen schlagen.
Obwohl man niemanden der handelnden Charaktere leiden kann, ist man doch gespannt wie es weiter geht und kann sich – nichts zuletzt wegen des Schreibstils – zumindest gut jeden hinein versetzen.

Eine eigentliche Rahmenhandlung sucht man dagegen eher vergebens. Ein wenig wie in einer Soap sind es eigentlich eher die Charaktere selbst, die entweder sich oder andere durch ihre Handlungen und Entschlüsse weiter in Gang halten; der Roman schildert eine Art Netzwerk von Mikrokosmen, die eben durch die immer katastrophalere Situation in der Stadt in Berührung und Bewegung kommen.

Was Tim Staffel hier geschaffen hat, ist eine Dystopie, aber eine, die gar nicht so weit weg ist. Die radikalen Strömungen des Buches kann man auch als Mensch heute erkennen, nur eben nicht so massiv und konzentriert wie es hier, in dem fiktiven Berlin, der Fall ist.
Sein Roman ist ein Spiegel für alle, die noch immer irgendwelchen revolutionären Ideen nachhängen, es ist ein Roman darüber, zu was für Tieren die Menschen werden, wenn man ihnen die ordnende Hand wegnimmt.
Und er eine Abrechnung mit der modernen Neigung, selbst aus den schlimmsten Katastrophen noch Profit schlagen zu wollen. Gerade der letzte Akt, der dem Roman auch seinen Titel gibt, auf den ich hier aber nicht näher eingehen werde, ist da absolut deutlich.

Abschließend kann man sagen, dass "Terrordrom" keine leichte Lektüre ist. Es ist kein Unterhaltungsroman und sicherlich über manche Strecken hinweg schwer zu lesen oder auch schwer verdaulich; aber er ist gut.
Die Zeichnung der unsympathischen Charaktere ist glaubwürdig, die geradezu apokalyptische Atmosphäre wird gekonnt vermittelt und die Thematik ist ja durchaus auch 2004, im sechsten Jahr nach Erscheinen des immer wieder neu aufgelegten Buches, noch aktuell, teils sogar noch weit aktueller also damals.
Wer also einfach nur ein Buch zum Abschalten sucht, der ist bei "Terrordrom" falsch.
Wer aber einer Dystopie, einer Geschichte über einen Teil der Menschheit am totalen Abgrund, etwas abgewinnen kann und wem der unorthodoxe Stil des Buches zusagt, der kann hier getrost zugreifen, denn eines ist "Terrordrom" ganz sicher: es ist ganz sicher gut.


Tim Staffel{jcomments on}
Terrordrom
220 Seiten Softcover, List Taschenbuch Verlag
ISBN: 3-548-60001-8