Gibson, William: Spook Country

Wie kommt es, dass eigentlich immer, wenn ich Gibson lese, ich dies irgendwann in einem Wartezimmer tue? „Neuromancer“ las ich, als ein Arzt über Wochen versuchte, eine Allergie zu finden, die den schweren Husten, an dem ich damals litt, hätte begründen können, „Spook Country“ nun, während man (irrend) glaubte, ich könne eine Nagelkranz-Fraktur im rechten Daumen mein Eigen nennen. Aber lassen wir meine Krankengeschichte mal beiseite...

„Spook Country“ ist das derzeit aktuellste Buch von William Gibson, dem oft postulierten Vater des Cyberpunk, und erschien 2007. Es spielt im selben gegenwarts-shaften Setting, im selben Universum wie schon sein Vorläufer „Pattern Recognition“ es im Jahre 2003 getan hat. Nun habe ich „Pattern Recognition“ noch immer nicht gelesen, kann aber somit guten Gewissens sagen, das sein neuestes Werk auch sehr gut als Stand-Alone funktionieren kann. Aber die Verbindung ist auch eher eine in zwei Nebencharakteren fußende Verknüpfung, denn mitnichten kann man hier von einem wirklichen Sequel sprechen.
Das Buch liegt als wunderschönes Hardcover aus dem traditionsreichen Hause G.P. Putnam‘s Son vor mir. In dem stilvollen Umschlag, der in starker Vektor-Optik eine Hochhausschlucht suggeriert steckt ein stabil eingeschlagenes Buch mit klarem, festem Druck und angenehmen Satz; sicherlich eines der hochwertigsten Bücher aus Amerika, die ich so mein Eigen nenne.
Eine deutsche Ausgabe mit dem etwas fragwürdigen Titel „Quellcode“ ist im März 2008 erschienen, aber mehr als das überaus hässliche Cover habe ich davon noch nicht gesehen.

Im Grunde gibt es in „Spook Country“ drei Handlungsstränge, die alle in irgendeiner Form der übertragenen Bedeutung von „Spook“ als „Spion“ oder „Geheimdienstmitarbeiter“ gerecht werden. Da ist etwa Hollis Henry, die eine Reportage über ‚locative Art‘ anstellt, also GPS-verankerte, dreidimensionale VR-Kunst. Da ist Tito, der als professioneller „Verbrecher“ aus einer cubanisch-chinesischen Familie, der im Auftrag eines mysteriösen, alten Mannes iPods schmuggelt. Und da ist Milgrim, die drogensüchtige Geisel des ebenso mysteriösen Mr. Brown, der von ihm festgehalten wird, um Volapuk-Texte aus dem Russischen ind Englische übersetzen soll.
Drei Handlungsstränge, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, die aber eindeutig doch irgendwie verbunden sind.

Aus dieser Struktur erwächst der erste von mehreren Gründen, weshalb mich „Spook Country“ schwer begeistern konnte. Die Art, wie Gibson einerseits streng innerhalb dieser Erzählstränge bleibt (und selbst dort, wo sie sich überschneiden, niemals aus der jeweiligen Ezählperspektive ausbricht) und andererseits durchgehend das Gefühl erzeugt, dass das alles fast nebeneinander zu passieren scheint, ist ganz grandios. Die Charaktere, genauso wie die relativ überschaubaren Nebencharaktere, sind dabei alle unglaublich gute Träger dieser Dramatik, da selbst explizite Schattenmänner in seinem Buch erstaunlich viel Profil haben.

Doch auch sein Umgang mit dem Setting selbst weiß zu gefallen. Sicher, „Spook Country“ ist quasi kontemporär, aber eben auch nur das: quasi. Gerade das ganze Locative Art-Segment ist in „unserer Welt“ noch extrem in den Kinderschuhen, in Gibsons Setting dagegen anscheinend schon recht gut entwickelt. Er überschreitet dabei an keiner Stelle die Grenze zur Science Fiction und bleibt dadurch extrem glaubwürdig, macht aber andererseits bisweilen klar, dass man eben doch keinen reinen Thriller liest.
Was er damit erzeugt, ist eine faszinierende Mischung aus einer unberechenbaren Adaption unserer Zeit, ganz explizit Post-9/11 in jedweder Beziehung, mit einer Untergrund-Kultur wie man sie aus Gibsons früheren Büchern her kennt.
Gesteigert wird dieser Eindruck noch einmal dadurch, dass er ganz bewusst mit existierenden Namen und Marken, mit Systemen und Gesten arbeitet. Es sind eben nicht anonyme MP3-Player, sondern iPods, die Tito schmuggelt und Hollis wird nicht nur von einem stilvollen Roboter aus rein-weißen Legosteinen geweckt, sondern hat auch statt einem namenlosen Laptop ein PowerBook, bis hin zu einem äußerst spannenden inneren Monolog, indem sie sich – mitten in einer Verschwörung fischend – über die Doppeldeutigkeit von „vertrauenswürdigen W-Lan-Netzwerken“ auslässt.
Das klingt nach Namedropping, erzeugt aber eine ganz eigene Atmosphäre. Einerseits ist es eine durchaus subtile Kritik an der Zentriertheit auf Marken, Labels und Love-Marks unserer Gesellschaft, andererseits macht es „Spook Country“ einfach greifbarer, glaubwürdiger.

Alles in allem gibt es wirklich wenig, was ich an dem Buch wirklich kritisieren könnte. Gibson weiß mit seiner Sprache umzugehen und webt hier gekonnt eine komplexe Geschichte zusammen, die am Ende auch noch eine ebenso glaubwürdige wie einmalige Auflösung erfährt.
Obschon seiner fiktiven Elemente halte ich „Spook Country“ zudem für eine der treffendsten Schilderungen unserer Zeit: Es ist multikulturell, komplex vernetzt, markendurchzogen, verwirrend, teilweise fast sinnlos, mit einem krassen Gefälle von arm und reich durchsetzt und zugleich in wildem Spiel von viral marketing, ubiquitous computing und anderen, schwimmenden Grenzen durchzogen.

„Neuromancer“ und seine Nachfolger waren visionär und sicherlich gute Romane, aber „Spook Country“ ist ein richtig erwachsener Beitrag zur Literatur geworden und etwas, das man sich eigentlich nicht entgehen lassen sollte!


William Gibson{jcomments on}
Spook Country
371 Seiten Hardcover
G.P. Putnam‘s Son
ISBN: 978-0-399-15430-0