Besson, Philippe: Nachtsaison

Das vorliegende Buch ist mal wieder einer dieser Titel, bei dem sich vermutlich der eine oder andere fragen wird, warum ausgerechnet auf der DORP dazu eine Rezension erscheint, doch nachdem ich es eben ausgelesen habe, war mir klar, dass ich meine Eindrücke teilen und meine Meinung darüber kundtun musste.

„Nachsaison“ erschien ursprünglich in französischer Sprache unter dem Titel „L‘arrière-saison“ bereits im Jahre 2002. Doch nun hat es gegen Ende 2007 Philippe Bessons Werk auch endlich nach Deutschland geschafft. Und bereits ein Blick auf den Umschlag verdeutlicht, womit wir es zu tun haben.
Edward Hopper, ein amerikanischer Maler, schuf in den Vierzigern ein Gemälde, das vermutlich auch hier viele Leute kennen, wenn auch teilweise nur um Ecken. „Nighthawks“ zeigt eine Art Diner in grellem, aber dabei doch fahlen Neonlicht. Am Tresen sitzen zwei Männer in schwarzen Anzügen mit den charakteristischen Hüten der Zeit, einer von ihnen in Gesellschaft einer schönen Frau in elegantem, roten Kleid. Hinter dem Thresen, ganz in weiß, steht die geschäftige, männliche Bedienung. „Nighthawks“ ist eines meiner absoluten Lieblingsgemälde und strahlt eine nicht zu verleugnende Melancholie aus, kann mich immer wieder durch seine absolut dichte Atmosphäre erneut einfangen.
Und dieses Bild ist nicht von Ungefähr auf dem Titel dieses Romans gelandet, sondern war in der Tat Bessons Ausgangspunkt für seine mit 156 Seiten recht kurze Geschichte.

Er schildert in dem Roman genau diese Situation. Er hat sich eine Geschichte überlegt, die zu der gezeigten Szene führt, schildert im Grunde genau diesen Moment. Und da die Frage zwangsläufig aufkommen muss: Ja, im Grunde schildert er 156 Seiten lang genau diesen einen Moment.
Das ist nicht ganz exakt zutreffend, trifft aber den Kern des Buches. Ausgangspunkt sind die Frau im roten Kleid und der Mann hinter dem Thresen. Sie heißt Louise und befindet sich in einer sehr prekären Lage: Sie wartet dort auf Norman. Norman, das ist ihr Geliebter, der gerade ausgerückt ist, um seiner Frau zu sagen, dass es eine andere in seinem Leben gibt und sich von ihr zu trennen. Der Mann hinter dem Thresen, das ist Ben. Ben kennt Louise seit vielen Jahren, denn seit vielen Jahren kehrt sie immer wieder dort ein und obschon ihre Beziehung von klarer Distanz und vornehmer Zurückhaltung geprägt ist, steht er ihr doch im Geiste nahe.
Früher, da kehrte Louise dort noch mit ihrer letzten, großen Liebe ein: Stephen. Stephen hatte sie zu Gunsten einer anderen vor Jahren verlassen und nur einen Scherbenhaufen zurückgelassen, war komplett aus ihrem Leben verschwunden. Und ausgerechnet heute, an diesem Moment der gespannten Erwartung auf Normans Eintreffen, trifft statt dessen erneut Stephen dort ein und löst einen ganzen Wust von irren Emotionen in allen Anwesenden aus.

Das ist der Kunstgriff, dessen Besson sich bemüht, und der vollends aufgeht. Immer abwechselnd, aber nicht in fester Reihenfolge, wechselt er den Blickwinkel, aus dem er das Geschehen beleuchtet. Fast jeder Satz aus „Nachsaison“ ist ein innerer Monolog, doch immer wieder aus der Sicht einer der anderen, anwesenden Personen. Der Leser kann auf diese Art einen Akt des emotionalen Voyeurismus begehen, der einen von der ersten Zeile an in seinen Bann schlägt und nicht mehr loslässt. Man erkennt, Zeile für Zeile, wie immer wieder Missverständnisse entstehen, wie Wohlwollendes feindlich aufgefasst wird, wie Unsicherheit als Ablehnung gedeutet wird, wie Gespräche aneinander vorbeigehen. Oder auch, wie es zu ganz eigentümlichen Momenten besonderen Verständnisses kommt, etwa zwischen Carter – der letzten Person auf dem Gemälde, bei Besson ein betrunkener Fischer aus Cape Cod, wohin er die Handlung gelegt hat – und Louise.
Das alles wird insbesondere durch die unglaubliche farbige und tief gehende Sprache ermöglicht, die Besson an den Tag legt. Hier muss ich auch den Hut vor Caroline Vollmann ziehen, deren Übersetzung ganz grandios geworden ist. Das verdient insbesondere deshalb besondere Beachtung, da Besson sehr bewusst mit Sprache agiert und sie auch zum Teil der Handlung werden lässt. Das Erkennen von Manierismen, aber auch von sprachlichen Mitteln sind Eigenschaften, die jeder der Charaktere dort bisweilen an den Tag legt und dass das Buch sich dann an diesen Stellen tatsächlich wie ein in Deutsch verfasstes Werk zu geben versteht, verdient Applaus.
„Nachsaison“ ist auch eines dieser Bücher der unglaublich starken Sätze. Immer wieder stieß ich auf Aussagen, die so gekonnt, so gezielt und so treffend waren, dass ich einfach innehalten musste. Oft sind die Aussagen nicht lang, sie sind einfach gut, sie treffen einfach die Realität. „Seine Ruhe gleicht der Stille nach dem Tod.“ war so ein Satz, der einfach hängen blieb, doch ist es nur einer von dutzenden.
„Nachsaison“ hat mich sprachlich gefangen, hat es mich nur zu zwingenden Anlässen aus der Hand legen lassen. Es ist lange her, dass ich solch eine Sprachmagie gelesen habe, vor allem, da das Buch sehr persönlich ist. Jeder, der schon einmal eine wie auch immer geartete Spannung in einer zwischenmenschlichen Beziehung erlebt hat, wird vermutlich immer wieder nur denken können „Ja, das trifft es, so fühlt es sich an.“

Allerdings, ich habe auch einige harte Kritikpunkte an dem Buch, allem voran einen: Die Umsetzung des Gemäldes ist, vorsichtig gesagt, nicht sehr akkurat. Das wäre normalerweise egal, da das Buch aber so massiv mit seiner Verbindung zu Hoppers Gemälde wirbt, muss dieser Einwand erlaubt sein.
Die Beschreibung der Personen trifft das, was man auf der Leinwand sieht, nicht wirklich. Das wäre aber noch egal, würden die restlichen Details stimmen. Doch sind es bei „Nighthawks“ eindeutig Kaffeetassen vor den Leuten, keine Martinigläser, was die Atmosphäre schon verschiebt. Besson lässt seine Geschichte Nachmittags spielen, was dem Bild besonders Unrecht tut, da es nicht zuletzt für seine einmalige Darstellung des Neonlichtes bekannt ist, die bis heute nicht wirklich exakt photomechanisch reproduziert werden konnte. Die Umgebung des Diners habe ich immer urbaner gedeutet, vor allem aber nicht als Hafenstraße, wie Besson es macht. Etwas peinlich ist die Deutung des Schildes oberhalb der Front – „Phillies“ – als Namen der Besitzerin, den es handelt sich dabei um nicht mehr und nicht weniger als kontemporäre Zigarrenwerbung der 40er. Alleine schon sprachlich, den mangels Apostrophe steht der Name nicht einmal traditionell im Genitiv.
Als besonders unangenehm empfand ich es aber, dass Besson das Gemälde in die Gegenwart verlegt hat. Das ist, genauso wie die meisten obigen Elemente, sicherlich auch Teil kreativer Freiheit, aber es führt auch hier in meinen Augen dazu, dass Hoppers Atmosphäre nicht wirklich getroffen wird. Die Kleidung, die Hüte strahlen einen ganz eigenen Stil aus, der zu „Nighthawks“ einfach gehört, und Louises Handy wirkt dort einfach schrecklich fehl am Platze.

Das aber ist eine Kritik, die man ganz besonders und speziell werten sollte. Auf der einen Seite, keine Frage, will das Buch eine Umsetzung von Hoppers Gemälde sein und, in meinen Augen, schießt dort sehr weit am Ziel vorbei. Besson trifft „Nighthawks“ nicht wirklich, auch objektiv gesehen, denke ich.
Was er aber dennoch geschafft hat, ist die Verschriftlichtung einer Beziehungssituation, die ich selten so brillant erlebt habe. Was Besson hier beschreibt, sind Menschen, ist das Leben. Natürlich ist das Wiedertreffen von Stephen und Louise und alles darauffolgende zu einem gewissen Maße inszeniert und stilisiert, aber dabei so exakt geschildert, dass es nur begeistern kann.

„Nachsaison“ ist ein Buch für Menschen, die den leisen Tönen des Zwischenmenschlichen etwas abgewinnen können. Es ist ein Rausch durch Berge von Emotionen, die eine wahrhaft minimale Anzahl von Sätzen in wörtlicher Rede umranken. Es ist zu Worten gewordene Melancholie, die der Leser Zeile für Zeile miterleben kann. Es ist menschlich.
Trotz anderer Erwartungshaltung hat mich Bessons Roman durchweg begeistern können. Man muss wissen, dass man zumindest derzeit recht viel Geld auslegen muss, denn mit 12 Euro ist das dünne Büchlein nicht gerade geschenkt, aber ich habe es nicht bereut.
Um der langen Rede noch einen kurzen Sinn zu geben: „Nachsaison“ ist einfach ein durchweg gutes Buch.



Philippe Besson
Nachsaison 
156 Seiten
Softcover
dtv premium {jcomments on}
ISBN: 978-3-423-24597-5