Smith, Tom Rob: Kind 44
„Kind 44“ ist der Erstling des 1979 geborenen Autors Tom Rob Smith gewesen und war von Anfang an ein großer Erfolg. Schon der Aufkleber auf dem Cover weißt das Buch als „SPIEGEL-Bestseller“ aus und dem Autor wurden unter anderem der „Ian Flemming Steel Dagger“ und der „International Thriller Award“ für das Buch verliehen.Mir persönlich hat es gar nicht gefallen.
Die Prämisse klingt dabei zunächst sehr spannend. Da im sovietischen Russland offiziell keine Verbrechen existierten, gerät das ganze System in Aufregung, als in der Tat ein Serientäter beginnt, Kinder zu ermorden. Geheimdienstoffizier Leo Demidow beginnt daraufhin, laut Backcover, eigene Ermittlungen um das zu offenbaren, was das System eigentlich nicht wahrnehmen darf.
Leider ist diese Prämisse in Teilen sehr weit von der Realität des Buches entfernt. Zwar eröffnet die Handlung direkt mit dem Bogen um eines der Mordopfer, doch nachdem dessen Leiche erst einmal gefunden wurde, wandert das Buch für mehr als 150 Seiten fort von dieser Handlung und hin zu dem Erlebnissen Demidows. Das ist per se nicht langweilig, aber es weckte in mir etwas den Eindruck von Etikettenschwindel, denn das, was mich an dem Buch so reizte, trat für lange, lange Zeit immer weiter in den Hintergrund. Bis hin zu dem Punkt, an dem zumindest mich die Spannungskurve verloren hat. Was jedoch noch viel, viel störender wirkt, sind die Bemühungen Smiths, auch ja noch dem allerletzten Leser klar zu machen, wie schrecklich die Sovietrepublik zu dieser Zeit gewesen ist. Härter als in jeder mir bekannten Dystopie schildert er einen Staat, der nur aus paranoiden, egoistischen und arroganten Beamten besteht und über ein duckmäuserisches, opportunistisches und in vielen Fällen ebenso feindseliges Volk herrscht.
Nun will ich an dieser Stelle gar nicht in Frage stellen, dass der Autor seine Recherche gut gemacht habe. Ich nehme an, es ist durchaus zu sagen, dass ich bisher wenige Bücher gelesen habe, die mir in einem Abwasch so viele Details über den ganzen Polizei- und Spitzelapparat der Sovietunion in Form einer Erzählung vermittelt haben. Wenn überhaupt.
Nur ist es zu viel. Es ist zu viel, denn es ist sicher einer der Gründe, weshalb das Buch nicht, wie man sagt, „zu Potte kommt.“ Und es ist definitiv zu viel in dem Sinne, dass der Leser übersättigt. Es gab zahlreiche Passagen, in denen ich hoffte, Smith käme bald endlich zu einem Ende mit seinen Ausführungen. Aber nicht, weil mich die Gräuel so abgeschreckt hätten, sondern weil es einfach den Erzählfluss störte und aufgrund seiner Einseitigkeit an Glaubwürdigkeit verlor. Teilweise rapide.
Auf der Suche nach der Antwort auf die Frage, warum das Buch gerade im englichen Sprachraum so viele gute Kritiken bekommen hat, schaute ich mir im Laden auch einmal die Originalfassung an - und war entsetzt. Das, was hier im Zuge der Übersetzung angerichtet worden ist, grenzt seinerseits an ein Verbrechen!
Dass die Schreibweise der Namen teilweise abweicht, das ist okay - das tut sie bei englischen bzw. deutschen Transkriptionen genuin russischer Namen ohnehin. Aber der Rest?
Der im Grunde recht radikal anmutender Sprachstil des Buches, voller kurzer, teils gar elliptischer Formulierungen, wirkt auf den ersten Blick seltsam deplaziert in einem ansonsten so klassisch gehaltenen Thriller. Doch das liegt, wenigstens zum Teil, an der deutschen Fassung. Die englische Ausgabe spielt mit der ganzen Typografie, setzt die Gedankengänge des Protagonisten in eigene, zentriert gesetzte Absätze und stellt sie damit antithetisch gegen die Doktrinen des Regimes. Dialoge stehen nicht in Anführungsstrichen, sondern werden aufgereiht und durch Gedankenstriche getrennt, eine Analogie zu Verhörprotokollen, die sicherlich nicht zufällig steht.
All das fehlt der deutschen Ausgabe. Übersetzer Armin Gontermann scheint ansonsten eine anständige Arbeit abgeliefert zu haben, aber diese Veränderungen sind gravierend und es geht dem Text dadurch eine ganze Ebene vollständig verloren.
Doch selbst wenn diese enthalten wäre, so würde ich „Kind 44“ nicht empfehlen. Es gibt dutzende guter Thriller und Krimis da draußen, sogar eine Klassiker vor russischer Kulisse wie etwa „Gorki Park“ von Martin Cruz Smith (keine Verwandtschaft, übrigens).
Somit verbleibt mir nur noch der Verweis auf das Ende. Ich habe schon manchen Thriller gelesen, bei dem das Finale dann nach einer grandiosen Spannungskurve eine riesige Enttäuschung war - Grangé konnte das schon mehrfach bei mir erwirken. „Kind 44“ hat keine beeindruckende, grandiose Spannungskurve - aber selbst so wirkt das Ende extrem unüberzeugend. Vorsichtig ausgedrückt.
Alles in allem ist es eine Erzählung mit spannender Prämisse geworden, die allerdings teilweise in ihren Details ertrinkt, für den deutschen Markt in ihrem Stil stark zu sehr mit der Norm vereinheitlicht wurde und die neben einem bescheidenen Ende auch bereits in ihrem Mittelteil arge Probleme mit ihrer Dramaturgie hat.
Ich wollte „Kind 44“ sehr gerne haben von dem ersten Moment, an dem ich das auch im deutschen wunderschön aufgemachte Taschenbuch in den Händen hielt. Aber das geht nicht. Es ist ein Buch mit viel zu vielen Schwächen.
Tom Rob Smith {jcomments on}
Kind 44
509 Seiten Softcover
Goldmann
ISBN: 978-3-442-47207-9