King, Stephen: In einer kleinen Stadt - Needful Things

Die Tage las ich in einem Phantastik-Lexikon, dass das Problem, sich mit Stephen King zu befassen, darin läge, dass der Mann ein Phänomen geworden sei. Und daher, das läge in der Natur der Sache, nötige einen dieser Phänomens-Zustand dazu, Stellung zu beziehen.
King polarisiert, das ist definitiv richtig, und selten trifft man jemanden, der nicht vehement eine Position ihm gegenüber vertritt; wahlweise sein Werk euphorisch gutheißend oder aber prinzipiell ablehnend.

Nachdem ich lange Zeit der letztgenannten Gruppe zugehört habe – was sicherlich nicht zuletzt fragwürdigen Filmadaptionen wie „Katzenauge“ und „Dreamcatcher“ zuzuschreiben ist – hat sich mein Blickwinkel da mittlerweile verschoben.
Und da ich mit John Sauls „Blackstone“-Chroniken vor Jahren so viel Spaß hatte und man immer hört, das vorliegende Buch schlüge in eine ähnliche Kerbe, habe ich dem Wälzer mal eine Chance gegeben.

Das Buch erschlägt einen aber auch wirklich. Deutlich über 800 Seiten erwarten einen zwischen den Deckeln, die – ebenfalls wohl dem Film sei Dank – heutzutage nicht mehr nur den überaus unscheinbaren, deutschen Titel „In einer kleinen Stadt“, sondern auch das englische „Needful Things“ präsentieren.
Jedoch hat King auch viel zu erzählen.
„In einer kleinen Stadt“ ist sein Abgesang auf das von ihm erschaffene und mit zahlreichen Plagen heimgesuchte „Castle Rock“ und schildert den triumphalen Niedergang der Kleinstadt. Der nimmt seinen Anfang, als ein seltsamer Fremder, Leland Gaunt geheißen, vor Ort einen Laden eröffnet. „Needful Things“ verspricht die Aufschrift auf der Markise und fasst das Angebot damit sogar sehr gekonnt zusammen: Gaunt verkauft genau das, was sie Leute suchen.
Allerdings ist der Preis in der Regel sehr hoch: Gaunt erfüllt den Menschen ihre sehnsüchtigsten Wünsche, von der Baseball-Sammelkarte zur Rheuma-Heilung, zu einem regelrechten Spottpreis, jedoch zu einer Kondition: Jeder Kunde muss für Gaunt einem anderen Bewohner in der Ortschaft einen Streich spielen.
Diese entpuppen sich jedoch sehr schnell als harte, bitterböse Intrigen und so beginnt die ganze Stadt langsam, sich an die Kehle zu gehen während Wünsche und Verlangen die Leute doch wieder und wieder in den Laden treiben.

Die Idee der Geschichte ich nicht neu, das kann man wahrlich nicht sagen. 1962 schon schrieb Ray Bradbury mit „Something Wicked this Way Comes“ einen Roman, der in einer sehr ähnliche Richtung geht – ein mysteriöser Fremder verlockt mit der Erfüllung gehegter Sehnsüchte.
Doch gibt es gleich eine Reihe von Dingen, die einen (letzten) Aufenthalt in Castle Rock dennoch lohnend machen.

Zunächst einmal verdient Kings Sprachgebrauch Lob. Er schreibt sehr gut, locker und „poppig“ möchte man sagen. Das Buch liest sich sehr flüssig, was bei dem Umfang auch fast schon ein Muss ist, und erzeugt meist mit wenigen, kurzen Sätzen sehr aussagekräftige Bilder. Die gewollten und offenen Bezüge zu Popkultur-Elementen werden zwar bereits heute – 17 Jahre nach Erscheinen des Buches – jene nicht mehr erreichen, die wie so viele vor ihnen irgendwann in der Mitte ihres zweiten, gelebten Jahrzehnts ihren Weg zur Horror-Grundfeste King finden, zünden generell aber doch sehr treffend und wirken nie aufgesetzt.
Bezüge aber gibt es auch zu zahlreichen King‘schen Werken, was auch „Needful Things“ wieder zu einem dieser Bücher des Autors aus Maine macht, die manchmal geradezu auf einer Meta-Ebene zu schweben scheinen. Dabei ist „In einer kleinen Stadt“ gut für sich alleine gesehen lesbar, bietet dem Eingeweihten aber viele, willkommene Anspielungen. Alleine das Finale vereint auf engstem Raum noch einmal Elemente und Aussprüche aus „Stark – The Dark Half“, „Cujo“ und sogar dem Zyklus vom „dunklen Turm“.

Was mir persönlich an dem Buch aber am besten gefallen hat ist die Darstellung der Ortschaft selbst. Viele der über 800 Seiten verwendet King einfach darauf, Charaktere zu etablieren, ihr Umfeld zu schildern und so sowohl einen Bezug zum Leser wie auch ein Beziehungsgeflecht unter den Figuren untereinander zu entwerfen.
Nach eigenem Bekunden war das Buch eine Reaktion auf das, was King die „Dekadenz der 80er“ nannte und als den größten Ramsch-Verkauf des Jahrhunderts empfand: Einen Ausverkauf von allem, sämtliche Werte inkusive. Dieses Gefühl, genauso wie den ganz eigenen Charme amerikanischer Kleinstädte, von denen auch Serien wie „Twin Peaks“ Anfang der 90er zehrten, transportiert er geradezu perfekt und unterhält gekonnt damit.

Was nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass „In einer kleinen Stadt“ vermutlich auch 100 Seiten kürzer hätte ausfallen können, häte ausfallen müssen. Obschon es über weite Strecken spannend bleibt, hat mich die Erzählung gerade im Mittelpart immer mal wieder zeitweilig verloren und erst nach einer Phase des Durchhaltens auch selbstständig wieder eingefangen.
Kings Bücher mussten ja schon öfter den Vorwurf der übermäßigen Dehnung über sich ergehen lassen; im Bezug auf sein Gesamtwerk vermag ich das einfach nicht zu sagen, im bezug auf das vorliegende Buch muss man aber wohl zustimmen.

Eine abschließende Bemerkung, bevor wir uns dem Fazit nähern, bezieht sich auf das Ende. Wer die (stark verkürzte) Verfilmung kennt, wird sich wundern, dass das Buch sich im Finale ganz anders entfaltet. Welches Ende man besser findet wird wohl Geschmackssache bleiben müssen, mir persönlich hatte der originale Schluss – wenn auch hart an der Grenze, „zu dick aufgetragen“ zu sein – doch insgesamt besser gefallen.

Alles in allem ist das Buch eine lohnende Lektüre. Der Umfang schreckt sicherlich manchen ab und tut das, wie gesagt, stellenweise leider nicht ganz ohne Grund. Aber wer sich durch die Längen zu beißen bereit ist, den erwarten viele spannende Stunden während des Abgesangs auf Castle Rock, in denen man als Leser mit tollen Figuren, spannenden Charakterisierungen, einigen feinen Wendungen, einem komplexen Figurengeflecht, einer gelungenen Prise Intertextualität und nicht zuletzt einfach einer packenden Handlung belohnt wird.
Derzeit scheint die deutsche Ausgabe mit der gelungenen Übersetzung von Christel Wiemken regulär vergriffen zu sein, aber wer das Buch irgendwo sieht, Deutsch wie Englisch, sollte zugreifen. Es lohnt sich, trotz der Schwächen.


Stephen King
In einer kleinen Stadt - Needful Things 
860 Seiten Softcover
Ullstein {jcomments on}
ISBN: 978-3-548255-53-1