Duve, Karen: Im tiefen Schnee ein stilles Heim

1995 veröffentlichte die junge Autorin Karen Duve, bis dahin nur als Mitarbeiterin an einer Sammlung literarischer Tiergeschichten aufgetreten, im Achilla-Verlag die Novelle „Im tiefen Schnee ein stilles Heim.“
Die wiederum fand ihren Weg zu mit durch ein Seminar über „das weibliche Schreiben zur Jahrtausendwende“ und nun auch ihren Weg zur DORP. Warum, mag man sich eingangs fragen ... doch wenn ich sage, dass diese Novelle, prinzipiell Teil emanzipierter Schreibkunst, letztlich sogar Lovecraft‘sche Elemente beinhaltet, sollte das Interesse durchaus geweckt sein.

Aber fangen wir, wie immer, vorne an. „Im tiefen Schnee...“ erzählt das Schicksal von Anita Dams, einer jungen Frau Anfang 20, deren Leben pünktlich zu Beginn der Geschichte gerade in Scherben zerfallen ist. Ihre Mutter, bisheriger Dreh- und Angelpunkt ihres gesamten Daseins, ist verstorben und hat sie damit mit einem gewaltigen Problem zurückgelassen: Nie hat Anita in ihrem Leben mal selbstständig etwas getan, sie weiß also gar nicht, wie das überhaupt geht.
Nachdem sie sich eine kurze Zeit in dem heillosen Chaos ihres Restlebens vegetiert hat, schlägt das Schicksal ein zweites Mal zu und Anitas Wohnung brennt nieder, lässt sie nun auch noch Obdach- und Mittellos zurück.
Nach einigem Hin und Her sowie der Erkenntnis, dass Anita nicht selbstständig in der Lage ist, etwa im Sozialamt vorbeizuschauen - sie traut sich nicht, weiß ja gar nicht, in welches Büro sie muss - greift sie zum Alternativplan: Fluchtverhalten. Sie kratzt was sie an Geld bekommen kann zusammen und flieht gen Süden, will in die Wärme.
Da aber Anita nunmal Anita ist, klappt auch das nicht und die junge Frau landet irgendwo in der Nähe von Lörrach in schlimmster Kälte. Auch hier entfalten sich verschiedene Handlungsakte, deren zentraler Punkt die Ladenbesitzerin Frau Oktober ist, die den Part einer Ersatzmutter zu übernehmen bereit zu sein scheint.
Doch alles eskaliert ... und zwar auf eine Art und Weise, die ich nicht erwartet hatte: Bis zum Ende der Geschichte liefert sich Anita noch einen wilden Kampf mit einem tentakelhaften Monster, dem sie mit einem fischförmigen Brieföffner den Garaus macht.
Eine kritische Annäherung an Duves Novelle, die sich übrigens auf gut 90 Seiten ausstreckt, fällt nicht ganz leicht. Einerseits ist die Geschichte über weite Teile sehr bodenständig und, offen gesagt, zuweilen auch recht langweilig, andererseits gibt es durchaus ein paar Ebenen, auf denen sie einen gewissen Reiz ausübt.
Duves Sprache ist sehr simpel, aber gekonnt. Man merkt an vielen Stellen, dass sie hier absichtlich mit den Gedanken- und Erkenntniswelten der Protagonistin spielt und spricht, dass es nicht Duve, sondern Dams ist, deren Sprache und Denkweise so minimalistisch sind. Nicht zuletzt auch, wenn ab und an wirklich schöne Formulierungen auftauchen, die zum Zitat geradezu einladen, etwa: „Die Gegenwart ist ein lästiger, aufdringlicher Zustand, während die Zukunft zum Glück noch nicht da ist und die Vergangenheit sich wie ein Film betrachten läßt.“

Sehr elegante und gekonnte, bisweilen richtiggehend vielschichte Vorausdeutungen zeigen, dass die Autorin mit Struktur und Intention an die Geschichte ging und machen auch durchaus Freude beim Lesen, da man einige von ihnen gut genug findet, um aufmerksam zu werden, andere dagegen auch erst beim erneuten Betrachten wird finden können.
Und durchaus reizvoll sind, das schrieb ich ja schon eingangs, leichte bis schwere Parallelen zu Lovecrafts Texten. Damit meine ich nicht nur den oktopodenhaften Widersacher. Alleine schon, dass hier das Schrecken mit Meer und Salzgeruch in Verbindung gebracht wird, der fischförmige Brieföffner, all das passt. Aber auch die häufig geradezu deformiert aussehenden Charaktere, die sehr menschenkritische Grundhaltung, die verkopfte Protagonistin und nicht zuletzt die Tetxform als im Anschluss an das Erlebte direkt verfasstes Manuskript passen zu dem amerikanischen Autor. In wie weit diese Verbindung beabsichtigt ist, muss Spekulation bleiben, aber wer Lovecraft eher wegen der Untertöne als wegen der Monster schätzt, wird hier vielleicht auch seinen Spaß haben.

Allerdings, kommen wir zur Gegenseite: es gibt da einige Haken. Mehrere. Zunächst einmal, ja, gibt es all diese Elemente, literarisch oder Lovecraft‘sch reizvoll ... nur schlechter. Die Novelle wird teilweise von ihren eigenen Motiven zu Boden gerungen und man ist bisweilen versucht zu brüllen: „Ja, ich hab es ja verstanden!“
Insbesondere das Mutter-Motiv in dem Buch ist bisweilen doch schon bis zum Exzess getrieben, bis zu dem Punkt, das mir bei der Lektüre schon die Aussage „Gebährmutterfetischismus“ über die Lippen kam, und zwar in einem Maße, dass es die Gesamterzählung doch spürbar belastet.

Gleiches gilt, wenigstens in Teilen, auch für die Elemente, die ich mal als typisch für explizit feministische, deutsche Literatur nennen will. Natürlich wird Anita irgendwann von einem Mann missbraucht, natürlich wird dies betont emotionslos und vulgär umschrieben, natürlich sind alle Mütter und mutterartigen Figuren in dem Text böse und natürlich tötet Anita den Oktopus mit einem eher phallischen Objekt (Fischform) und einem Stich dorthin, wo die „Krakenarme“ zusammenlaufen.
Apropos Kraken, ich bezweifle, dass es Zufall ist, dass es durchgängig „die Krake“ anstelle des korrekten „der Kraken“ heißt; die Geschlechterform als Instrument. Nur leider, ohne damit begeistern zu können.

Zudem bleibt die Geschichte leider sehr schleierhaft, etwas schleierhafter noch, als mir lieb gewesen wäre. Ich gehöre halt nicht zu denen, die sagen „Oh, ich hab es nicht verstanden, es muss Kunst sein“, ich hätte gerne einen Hebel zum Verständnis gehabt.
Der aber bleibt aus. Duve lässt einen verwirrt und unsicher zurück, versäumt es aber gleichzeitig, genug Raum zur Spekulation zu lassen. Es fehlen die Indizien, um die Monstererscheinung etwa als eine Halluzination oder einen Verdrängungsmechanismus zu deuten, der Text bleibt stur und schildert es durchgängig als Realität.
Zwar gibt es Inkonsistenzen in dem Bericht, aber die gibt es in Anitas Text auch überall; hilft also nichts.

Das ist schade, denn Duve hat unbestreitbar viele Qualitäten, von guten Beschreibungen angefangen bis hin zu den besagten Vorausdeutungen, aber dieses Niederreiten der Mutterrolle, die bis ins Extrem gehende kritische Haltung Männern gegenüber und die Unauflösbarkeit des Geschehenen verleiden einem den andernfalls vermutlich sogar gegebenen Genuss.

Karen Duves Novelle ist kaum bekannt und es gibt durchaus, wie dargelegt, Gründe, mal einen Blick oder zwei zu riskieren, zumal die 90 Seiten auch zügig zu lesen sind. Die gebundene Einzelausgabe ist mittlerweile restlos vergriffen, doch gibt es eine bequeme Lösung: In der Duve-Sammelausgabe „Keine Ahnung“ (ISBN: 978-3518395356) ist, neben einige Kurzgeschichten der hamburiger Autorin auch „Im tiefen Schnee ein stilles Heim“ zu finden.

Mein Fazit ist zwiegespalten: Ich sage nicht, dass sich die Lektüre nicht lohnt. Im Gegenteil, da hab ich schon ganz anderes gelesen. Wohl aber muss ich sagen: Wirklich und wohlig gefallen hat es mir trotzdem nicht. Hier wird wohl jeder zu seiner Meinung finden müssen; ich hoffe, diese Rezension kann zumindest als Landkarte bei dieser Suche fungieren.


Karen Duve {jcomments on}
Im tiefen Schnee ein stilles Heim 
94 Seiten gebunden
Achilla Presse
ISBN: 978-3928398275