Willemsen, Roger: Deutschlandreise

Ah, endlich noch mal ein Rezensionsobjekt, das so gar nicht zu unserem Programm zu passen scheint. Ich nehme an, der eine oder andere Leser mag Roger Willemsen, ein 1955 geborener Schriftsteller, Auslandskorrespondent, Literaturwissenschafter und -kritiker, noch aus dem Fernsehen kennen. Dort war er von 1991 bis 2002 zu sehen, vornehmlich mit seiner Sendung „Willemsens Woche“. Doch kehrte er dann der Mattscheibe den Rücken, da er wieder kreativer arbeiten wollte. Das erste Produkt dieser Arbeit war das vorliegende Buch, welches 2002 erstmals veröffentlicht wurde.

Was Willemsen effektiv getan hat ist das, was auch der Titel verspricht: er ist durch Deutschland gereist. Gereist und hat beobachtet, niedergeschrieben was er gesehen hat und versucht so, ein Bild von unserer Nation gezeichnet, die ja noch immer darunter leidet, sich nicht als Nation zu fühlen. Er betreibt hier gewissermaßen die Dekonstruktion bestehender Mythen, etwa des Rufes, das Land der Dichter und Denker zu sein.
Er kritisiert dabei nie direkt, von einigen sprachlichen Katastrophen des Alltags einmal abgesehen, er zeichnet nur mit Worten ein Bild. Ein Bild, in dem ich meine subjektive Umgebung mehr als einmal wiederfinden konnte.
Wenn man mit Leuten auf der Straße spricht, so umweht sie nicht der Hauch tiefgründiger Gedanken und epischer Geschichten – kleine Anekdoten sind es allenfalls, die für diese Leute so groß erscheinen. Willemsen schafft es allerdings, seinen Blickwinkel weit genug von Geschenen zu entfernen und so nicht nur den beschriebenen Leuten, sondern auch uns dabei stetig einen Spiegel vorzuhalten. Man neigt dazu, sich zum Zentrum des respektive seines Univerums zu machen – Willensen gelingt das Kunststück, den Blick zu verschieben, wie ein Fremder auf den eigenen Alltag zu blicken.

Er schreibt dabei schonungslos und auch nicht immer „für die ganze Familie“. Er besucht einmal im Laufe des Buches ein Bordell und scheitert an dem Versuch, sich mit den Frauen dort einfach nur zu unterhalten, da dies ein Modus ist, der ihnen schon längst abhanden gekommen zu sein scheint.
Und zur deutschen Badekultur der Neuzeit schreibt er etwa: „Dieses Routieren und Sich-Anbieten, dieses Beinespreizen, Alle-vier-von-sich-Strecken, diese Willenlosigkeit! Junge Menschen drückten vor der Sonne Verschwendung aus, Alte kauern sich noch heute gebückt und abgewandt. Wie angespült liegen sie da.“
Willemsen ist dabei stets ausgesprochen wortgewandt und auch wenn es Prosa, nicht Lyrik, ist, die er verfasst, so hat Elke Heidenreich ihm den Titel „Dichter“ zweifellos zu Recht gegeben. Seine kurzen und prägnanten Beschreibungen erzeugen mehr Atmosphäre, als viele andere Autoren es je geschafft haben. Wenn Willemsen einen sommerlich Abend beschreibt, so glaubt man fast die kühle Luft spüren zu können, beschreibt er die beklemmende Fülle einer Großstadt, so ist man beklommen von dem, was er schreibt.
Das ist es auch, was einen so fesselt. „Deutschlandreise“ hat keine Handlung, auch keine wirkliche Ordnung abseits der gegebenen Reiseroute. Es hat keine Protagonisten, oder eher gesagt, es hat unzählige Protagonisten. Wenn er einige Tage seiner Reise gemeinsam mit einer jungen Frau bestreitet, so wird sie zu einer zentralen Figur des Buches, doch kaum dass sich ihre Route von seiner trennt, so verblasst sie und bleibt einzig eine Erinnerung im Kopf des Lesers. „Ein paar Wochen später bekomme ich eine Nachricht von ihr, sie sei jetzt glücklich, habe einen Mazda und einen Job als ‚Kostümverwalterin und Akleidehilfe bei einem Travestiekünstler.‘“
Ein wenig wie im echten Leben kommen und gehen die Leute, hinterlassen zwar ihre Spuren im Sand, verschwinden dann aber irgendwann doch nahezu vollständig und ebenso trivial wechselt dann auch Willemsen das Thema, schließt direkt an mit „Als in der Bahn ein Mann anfängt, mit seinem Revers zu telefonieren, wechsele ich das Abteil.“

Es ist wunderbar, wie Willemsen erzählt, sprachlich wie atmosphärisch ein Highlight. Man verschlingt die gut 200 Seiten eigentlich wie im Fluge und trauert am Ende, wenn es schon vorbei ist.
Wenn schon Kritik geübt werden soll, so richtet sie sich nicht gegen das Buch, allenfalls gegen den Verleger. Das Cover ist schön und passend, elegant matt noch dazu. Auch Satz und Druck sind gut, aber man hätte mutmaßlich ein paar zusätzliche Euro für einen zweiten Lektor ausgeben sollen. Rechtschreib- und Zeichenfehler sind jetzt nicht „an der Tagesordnung“, wie man sagt, aber zumindest häufiger in dem Buch zu finden, als man sich es wünschen würde. Gerade bei einem Autor wie Willemsen, dessen Werkzeug doch stets die Sprache ist.

Als Fazit kann ich nur jedem raten, „Deutschlandreise“ einmal zu lesen. Es ist kurzweilig, manchmal lustig, regt manch anderes Mal aber auch zum Nachdenken an. Vor allem aber hilft es einem, noch mal mit etwas Abstand Blicke auf den eigenen Alltag zu werfen und etwas jenen Blick zu kultivieren, der auch einen guten Erzähler auszeichnet: die Fähigkeit, im Alltag noch jeden Tag etwas Neues zu entdecken, oder wenigstens dem Alten einige neue Facetten abzuringen.


Name: Deutschlandreise
Verlag: Fischer Taschenbuch
Sprache: Deutsch
Autor: Roger Willemsen
Seiten: 207
ISBN: 3-596-16023-5{jcomments on}