Ende, Michael: Der Spiegel im Siegel. Ein Labyrinth.

„Oh, du liest Michael Ende? Was denn gerade? Momo?“
Es hat etwas frustrierendes, Leute darauf hinzuweisen, dass man sich derzeit ein Buch von Michael Ende zur Lektüre erwählt hat. Nicht, das seine Kinderbücher nicht von hoher Qualität wären – Momo, Jim Knopf, Lukas der Lokomotivführer und Die unendliche Geschichte sind grenzenlose Klassiker und kleine Meisterwerke der Schreibkunst, keine Frage. Dennoch ist es schade, dass kaum jemand auch die andere Seite Endes kennt, die sich vor allem in dem vorliegenden Buch manifestiert. Wobei, da bin ich ehrlich, ich da auch erst vor ganz kurzer Zeit drauf gestoßen bin.

„Der Spiegel im Spiegel“ kann wohl getrost zu Michael Endes Spätwerk gezählt werden. Der 1995 verstorbene Autor veröffentlichte das Buch 1983 und stieß damit sogleich auch manchem Fan vor den Kopf. Denn „Der Spiegel im Spiegel“, dessen Untertitel „Ein Labyrinth“ sehr passend ist, wie wir noch sehen werden, lässt zwar nichts von Endes Ideenreichtum oder sprachlichem Geschick vermissen, ist aber wesentlich dunkler und verstörender geraten als seine übrigen Geschichten.
Das Buch sammelt 30 großteilig sehr kurze Geschichten, die inhaltlich schwer zu erfassen sind. Es sind Träume. Endes Vater Edgar war surrealistischer Maler und die Idee des Autors war es, ihm dadurch Respekt zu erweisen dass er versucht, Texte zu schreiben, die auf den Leser eine Wirkung haben, die mit der vergleichbar ist, die das Betrachten der Werke seines Vaters haben.

Die einzelnen Elemente von „Der Spiegel im Spiegel“ folgen dabei also etwas, was ich „Traumlogik“ nennen will. Im Grunde ist das, was hier passiert, einfach absurd und bizarr. Wirre Geschehnisse, seltsame Ereignisse, die das Fehlen jedweder Ratio erkennen lassen, prasseln geradezu auf den Leser ein. Doch je mehr er liest, desto mehr entsteht ein ganz eigener, eher assoziativer Zusammenhang.

Immer wieder tauchen die gleichen Motive auf. Figuren, die man aus einer vorigen Geschichte kennt, erscheinen erneut, aber in ganz anderem Kontext. Oder Handlung, die bereits andernorts vollführt worden sind, finden Wiederholung, ebenfalls aber in eine ganz andere Geschichte eingebettet.
Fast allen Geschichten gemein ist dabei zudem ein Verlust von Kontrolle. Ob das gleich zu Beginn die Geschichte eines jungen Mannes ist, der sich Flügel erträumt um damit beschwingt die Traumstadt verlassen zu können, aber dennoch fast schon märchenhaft auf seiner Reise scheitert, oder die eines Seemanns, dem beim Verlassen des Ausgucks in der Takelage ein Seiltänzer (!) begegnen und der mit dieser Situation partout nicht klarkommt, auf die eine oder andere Art und Weise sind sie alle ohne Kontrolle.
Die deutlichste Sprache verwendet Ende vielleicht noch in einer Gerichte über eine Reise (Art) Schauspieltruppe, die aber nicht mehr aufführt, da ihr ein Wort abhanden gekommen ist. Und nun reist sie durch das Land, auf der Suche nach dem einen Wort, dass ihnen den Sinn wiedergeben kann.

Seine Erzählungen sind dabei zum Teil wirklich heftig geworden. Kranke Visionen, einige sehr sexuelle Bezüge und bisweilen ein sehr hohes Maß an körperlicher Gewalt sind ungewohnt aus der Feder des eben vor allem für seine Kinderbücher bekannten Autors. „Der Spiegel im Spiegel“ ist ein Buch für Erwachsene auf jeder Ebene. Sowohl insofern, als das es aus den obigen Gründen schon nicht in Kinderhand gehört, aber auch, weil die surrealen, verwirrenden Bilder seiner Geschichte ohne irgendwas außer einem rein assoziativen Zusammenhang für junge Leser vermutlich auch schlicht nicht zu erfassen sein werden.

Es ist schwer, über „Der Spiegel im Spiegel“ zu schreiben, ohne einzelnen Geschichten schon zu viel vorweg zu nehmen und es ist fast unmöglich, sie alle in einen größeren Kontext zu setzen. Den besten Hinweis liefert der Autor noch selbst mit seinem Untertitel „Ein Labyrinth“. Das Netzwerk der Träume, so erlangt man eigentlich schnell die Erkenntnis, gleicht ein wenig dem Labyrinth des Minotaurus. Schnell verirrt man sich darin und man kommt zwar von zumeist recht leicht von Geschichte zu Geschichte, doch ist es unmöglich, zielgerichtet einen Punkt anzustreben. Ende greift das Motiv sogar selber auf – nicht ohne zu vergessen, darauf hinzuweisen, dass einem selbst ein Ariadnefaden nichts bringen würde.

Alles in allem muss ich zugeben, dass ich mich sehr in „Der Spiegel im Spiegel“ verliebt habe. Das Buch ist eine Tour durch eine der Realität komplett entkoppelte Welt und das ist etwas, was einen unglaublichen Reiz ausübt. Gerade, wenn so meisterhaft umgesetzt wie hier.
Wer natürlich eher auf triviale, geradeaus gerichtete Erzählungen Wert legt, wer auf eine stringente Handlung nicht verzichten möchte und wen eher eine spannende Geschichte, denn evozierte Bilder zu fesseln vermögen, der wird vielleicht keinen Zugang zu Endes Werk finden. Ich für meinen Teil fühle mich, als hätte ich gerade 240 Seiten lang wirre Träume gehabt. Und über welche Geschichte kann man denn schon guten Gewissens sagen, dass sie traumhaft sei? Über die 30 in „Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth“ kann man es!


Name: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth.
Verlag: dtv
Sprache: Deutsch
Autor: Michael Ende
Seiten: 240
ISBN: 3-423-13503-4{jcomments on}