Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann
Mit „Der Sandmann“ lieferte E.T.A. Hoffmann 1817 ein Kunst- oder auch Schauermärchen in romantischer Tradition ab. Im Zentrum der Handlung steht Nathanael, ein junger Mann, der noch immer nicht überwinden konnte, dass sein Vater während eines anscheinend alchemistischen Experiments von dem finsteren Coppelius getötet wurde. Er knabbert daran und auch seine Geliebte, Clara, kann ihm da keinen Halt bieten.
Die Lage spitzt sich zu, als er Coppola kennen lernt. Zuerst glaubt er in dem Wetterglashändler den Mörder seines Vaters wiedererkannt zu haben, legt den Gedanken dann jedoch beiseite und erwirbt von dem Fremden eine Linse, die seinen Blick sogleich auf die Tochter des Nachbarn lenkt: Olimpia.
Immer mehr beginnt sich Nathanael in seiner Zuneigung an Olimpia zu verlieren; doch etwas stimmt ihr nicht. Niemand außer Nathanael findet Zugang zu der künstlich und unecht wirkenden Frau...
Anders als „Der goldne Topf“ und „Die Elixiere des Teufels“ hat mir „Der Sandmann“ richtig gut gefallen. Die Sprache ist nicht einfach, aber in weiten Teilen sehr zugänglich, die Handlung spannend, kompakt und stringent. Nathanael ist vom Typus her zwar erneut ein klassischer Protagonist der Romantik und steht wiederum klassisch im Konflikt mit der rationalen Clara, doch hier ist es Hoffmann gelungen, all das homogen in die Geschichte einzubetten.
Nathanael ist psychologisch sehr schön gezeichnet und man kann tatsächlich verstehen, warum er der resoluten Clara die einfältige Olimpie vorziehen könnte. Zudem hält durch diese noch eine Variation des Motivs künstlicher Menschen Einzug, die allerdings in ihrem Automatencharakter in eine ganz andere Kerbe haut als das, was etwa Mary Shelley 1818 mit „Frankenstein“ und Gustav Meyrink knapp 100 Jahre später 1913 mit „Der Golem“ präsentierten.
Die Zeichnung der Figuren ist in der Tat so gut, das Freuds Theorien zur Psychoanalyse nicht zuletzt unter Bezugnahme auf Hoffmanns „Sandmann“ entstanden sind. Maßgeblich nahm etwa das Verhältnis Nathanaels zu seinem leiblichen Vater und dessen Gehilfen wie Mörder Coppelius Einfluss auf Freuds Ideen von Vatermord und Kastrationsangst.
Das macht das Buch interessant, aber noch nicht zu einer spannenden Lektüre. Dafür sorgt aber die für Hoffmann ungewohnt knackige Handlungsfolge, die klassische Bilder und Motive ihrer Zeit einmal nicht als Hauptzweck, sondern nur als Begleitwerk nutzt. Man fiebert mit Nathanael, es ist einmal nicht von Anfang an entschieden wie der Konflikt zwischen Clara und Olimpia ausgeht, ob nun Ratio oder Phantastik über den Studenten siegen werden.
Das Ende kommt recht plötzlich und ist ebenso hart wie ambivalent zu lesen; warum am Ende das geschieht, was der auch hier wieder nicht in allen Punkten zuverlässige Erzähler schildert, bleibt in Teilen offen.
„Der Sandmann“ ist in einer ganzen Reihe Auflagen erschienen. In der sehr schönen Reihe „Fischer Klassik“ teilt er sich ein Buch mit Hoffmanns Novelle „Das Fräulein von Scuderi“, einzeln gibt es die Geschichte unter anderem in der Suhrkamp Basisbibliothek oder bei Reclam. Preislich am Besten stellt man sich aber sicherlich mit einem ebenfalls „Der Sandmann“ getauften Hardcover, im Albatros Verlag mit dem Untertitel „Die schönsten und schaurigsten Erzählungen“ versehen, das für auf über 700 Seiten für wenig Geld einen ziemlich umfangreichen Querschnitt durch sein Schaffen in ganz hübscher Aufmachung bietet.
„Der Sandmann“ ist ein Text, den man echt gelesen haben sollte und der sich nicht vor der Gothic Novel-Konkurrenz aus dem englischsprachigen Raum verstecken muss.
Name: Der Sandmann
Verlag: Reclam
Sprache: Deutsch
Autor: E.T.A. Hoffmann
Seiten: 74
ISBN: 3-150-00230-3{jcomments on}