Gaiman, Neil: Coraline

Neil Gaiman ist sicherlich einer der bedeutendsten und besten Autoren, die der Phantastik-Bereich aktuell zu bieten. Ob nun seine Romane wie "American Gods" oder "Neverwhere" (wobei dies ja auf der ebenfalls von ihm geschaffenen Fernsehvorlage gleichen Namens basiert), seine Kurzgeschichten, die grandiose Comic-Serie "Sandman" oder irgendetwas anderes: was Gaiman anfasst, wird normalerweise gut.
Doch schreibt Gaiman eben nicht nur derartige moderne Märchen, urbane Mythen und phantastische Geschichten, er widmet sich auch ebenso immer wieder einmal Kinderbüchern. "The Wolves in the Walls" und "The Day I swapped my Dad for 2 Goldfish" sind seine bisherigen Titel gewesen und haben eigentlich durchweg positive Kritiken erhalten, doch kein Vergleich zu dem vorliegenden Titel, der alleine bis zu seiner Drucklegung bereits zwölf Preise erhalten hatte.

Dabei hat es "Coraline" noch sehr schwer gehabt, auch nach Deutschland zu kommen, da den meisten Verlegern das Buch für ein Kinderbuch schon zu gruselig und erschreckend gewesen sei; uns aber sei das nun egal, schnappen wir uns halt die englische Ausgabe.
Das Buch ist ein vom Format her klassisches Softcover von geradezu grauenvoller Bindung, die eine Mischung aus 'schief geklebt', 'zu lange im Wasser gelegen' und 'trotzdem stabil' darstellt. Illustriert wurde das Buch – auf dem Cover wie auch im Fließtext – von Gaimans langjährigem Wegbegleiter Dave McKean, was bereits sehr zu der eigentümlichen Stimmung des Bandes beiträgt.

Protagonistin der Geschichte ist das junge Mädchen Coraline. Sie ist gerade mit ihren 'langweiligen' Eltern in eine neue Wohnung gezogen und geht alsbald auf Erkundungstour durch das gesamte Viertel. Als sie jedoch an einem regnerischen Tag auf eine mysteriöse Tür in ihrer Wohnung stößt, die scheinbar nirgendwohin führt, beginnt das Abenteuer ihres Lebens. Denn auf der anderen Seite findet sie eine ähnliche, aber doch merklich andere Welt vor. Dort leben ihre 'andere Mutter' und ihr 'anderer Vater', die sie zwar zunächst auf Rosen zu betten scheinen, aber hinter deren Fassade sich eine viel dunklere Seite verbirgt.
Coraline muss all ihren Scharfsinn und ihren Mut aufbringen, um nicht nur sich sondern auch andere Kinder und sogar ihre eigenen Eltern aus dieser Parallelwelt zu retten.

"Coraline" ist, um es schon mal auf den Punkt zu bringen, ein rundum gelungenes Buch. Gaiman greift auf ein sehr klassisches Motiv, das kleine Mädchen, das der normalen Welt entflieht und an einem seltsamen Ort landet, zurück, doch hat er ein sehr eigenes, sehr faszinierendes Buch geschaffen.
Die Charaktere sind liebevoll gezeichnet und wirken, wie sie sollen, also entweder sehr liebenswert oder auch sehr böse. Gaimans Zuneigung zu eigenartigen und bizarren Charakteren bleibt dabei auch in diesem Kinderbuch erhalten, doch passt es nur perfekt in das Gesamtbild. Die Welt, die Coraline durch die Tür erreicht, ist seltsam, ist bizarr. Obwohl sie zunächst wie unsere eigene Umgebung erscheint, geschehen dort sehr eigenartige Dinge. Damit ist nicht mal so sehr die sprechende Katze gemeint, mit der Coraline schnell ins Gespräch kommt, sondern auch einfach sehr eigentümliche Gestalten und Orte, die man am besten als 'fremd' bezeichnen kann.
Fremd und erschreckend. Das Buch ist weder ein Schocker noch im klassischen Sinne gruselig, aber schon irgendwo Angst einflößend. Gerade dadurch, das Coraline nicht durch irgendeine Märchenwelt wandert, sondern durch eine eigentümliche Fassung unserer Umgebung schreitet, macht es gruselig, denn die enthaltenen Elemente kennt jeder von uns aus dem Alltag und eine böse Mutter ist doch weit realer als ein böser Drache.
Gaiman schlägt dabei jedoch auch niemals über die Strenge, übertreibt es nie. "Coraline" ist in erster Linie für Kinder geschrieben und wird diese auch Ansprechen, doch ein gewisses Alter sollten sie schon erfüllen. Es gibt hier schwarze Ratten, gruselige Eltern, einfach nur bizarre Hunde und mancherlei andere Zutat, die jedem Alptraum gut zu Gesicht stünde, weshalb allzu junge Leser den Roman nur mit Vorsicht genießen sollten.

Doch nicht nur ältere Kinder, auch 'Erwachsene' können mit dem Buch eine nette Zeit verbringen. Wie schon gesagt ist es sympathisch geschrieben, liest sich flüssig runter und macht alleine schon wegen der Charaktere viel Spaß. Gaimans Welt hinter der Tür ist auch für einen Erwachsenen gut vorstellbar, seine Bildsprache recht universell und greift auch bei älteren Lesern noch.
Zudem hat er auch hier manche kluge Zeile drin und manche Idee, die junge Leser vermutlich gar nicht wahrnehmen werden, die aber durchaus den einen oder anderen Gedanken wert ist. So neigt gerade die Katze zu manch philosophischer Überlegung, und beispielsweise ihre Aussagen zum Thema 'Namen' kann man ruhig selbst im Kopf noch etwas kreisen lassen.

Somit kann man guten Gewissens eine Kaufempfehlung aussprechen. Der Roman kann alt wie jung fesseln, macht einfach Spaß zu lesen und jagt jeder Altersschicht ein mehr oder minder schmunzelndes Frösteln den Rücken herunter. Er ist spannend, liest sich rundum einfach gut und ist zwar recht kurz, kostet dafür aber in der hier getesteten Ausgabe auch nur 5,90 €. "Coraline" ist ein Kinderbuch, der geneigte Käufer sollte sich dessen schon im Klaren sein, doch ist es ein außergewöhnlicher Band, den ich hier nur wärmstens empfehle.


Name: Coraline
Verlag: HarperTrophy
Sprache: Englisch
Autor: Neil Gaiman
Seiten: 166
ISBN: 0-380-80734-3{jcomments on}