Gaiman, Neil: American Gods (dt.)

Warum schreibe ich eine Rezension zu einem Roman, den wir hier nicht nur bereits besprochen haben, sondern der obendrein auch nicht mehr zu den Jüngsten gehört? Erschwerend hinzukommt, dass es sich hier um einen Gaiman handelt, womit ihn vermutlich die meisten Besucher unserer Seite schon ihr Eigen nennen, denn immerhin ist Neil Gaiman in der Rollenspielszene so was wie Allgemeingut und Pflichtlektüre.
Die Antwort auf die Frage liegt irgendwo auf halber Wegstrecke zwischen der Tatsache, dass ich gerne ausführen würde, warum ich den Roman nicht ganz so gut finde wie ich gehofft und in anderen Kritiken gelesen habe und dem Umstand, dass meine Freundin und ich uns bei vielen Strandspaziergängen lange über dieses Buch unterhalten haben. Die Ergebnisse dieser Unterhaltungen möchte ich ungern in einem mittelmäßigen Hotel in Tunesien zurücklassen, sondern lieber mitteilen.

Der grobe Inhalt des Romans sieht wie folgt aus:
Shadow, der Hauptcharakter, hat eine dreijährige Gefängnisstrafe wegen Raubüberfalls abgesessen und erfährt kurz bevor er entlassen wird, dass sowohl seine Frau als auch sein bester Freund und zukünftiger Arbeitsgeber bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Nach seiner Freilassung ist er nun mehr oder weniger ziellos und nimmt daher das Angebot des merkwürdigen Mr. Wednesday an, für diesen zu arbeiten.
Wednesday stellt sich dabei schon bald als der nordische Göttervater Odin heraus, der die anderen, in Amerika lebenden, antiken Gottheiten zum Kampf gegen neue aufstrebende Götter wie das Internet oder das Fernsehen mobilisieren will.
Schnell muss Shadow dabei erkennen, dass er scheinbar für beide Seiten von nicht unerheblicher Bedeutung ist.

Die Idee ist natürlich originell und regt zum Lesen an, ihre Umsetzung ist dabei scheinbar auch typisch für Neil Gaiman und der ganze Stil erinnert frappierend an den Erfolgscomic „Sandman“. Hier wie dort gibt es einen Haupthandlungsstrang, vor dem sich auch diverse Nebenhandlungen abspielen oder kurzgeschichtenartige Einschübe, wie etwa die Ankünfte einzelner Götter in Amerika. Auch das Aufgreifen und Verweben vieler verschiedener Mythologien scheint ein Markenzeichen Gaimans zu sein.
Leider muss man allerdings sagen, dass eine Erzählstruktur, die in dem Medium Comic hervorragend funktioniert, sich nicht direkt auf einen vollständigen Roman übertragen lässt. Ein Comic verzeiht eine überflüssige Nebenhandlung oder vorübergehende Ziellosigkeit der Haupthandlung, denn es ist schnell vorbei. Man erreicht schnell den Höhepunkt der Nebenhandlung oder den nächsten interessanten Wendepunkt des Haupterzählstrangs.
Einen Roman jedoch hemmen solche Episoden in seinem Erzählfluss und genau das ist Gaiman bei American Gods passiert. Durch viele Einschübe in die Hauptgeschichte – es gibt insgesamt vier bis fünf Ankünfte in Amerika, von denen aber nur zwei mit der Hauptgeschichte verknüpft sind – wird deren roter Faden ziemlich verwässert.
Dies geschieht leider auch durch deren stark wiederholenden Charakter, so versuchen Schadow und Wednesday immer wieder Götter für Wednesdays Krieg zu gewinnen und viele dieser Unterhaltungen werden aktiv beschrieben, wobei sie fast immer nach demselben Strickmuster ablaufen. Mindestens eine davon hätte ersatzlos und ohne Auswirkungen auf den weiteren Verlauf gestrichen werden können und vielleicht sogar müssen, obwohl sie sich zweifellos alle amüsant lesen.
Auch die Nebenhandlung in dem kleinen Städtchen Lakeside ist spannend, liest sich schön und erfährt eine gute Auflösung, nur leider über hundert Seiten zu spät, wodurch sie einen Schatten auf die Haupthandlung wirft und diese sogar in einer Art überlagert, die der Haupthandlung nicht gerecht wird.

Man kann bei obiger Kritik leicht den Eindruck erwecken, dass Gaiman nicht in der Lage war einen strukturierten Roman zu schreiben, was aber meiner Meinung nach nicht richtig ist. Schon alleine die Tatsache, dass er einem in der Mitte des Buches die Auflösung geradezu unter die Nase reibt spricht dafür, dass er sich bewusst für diesen „Sandman“-artigen Collagen-Stil entschieden hat.
Dies kommt ihm auf der einen Seite zu Gute, denn so hat er die Möglichkeit, seine unglaubliche Phantasie zu entfalten und all seine Einfälle auch zu Papier zu bringen, auf der anderen Seite nimmt dies dem Roman einen Teil seines Erzählflusses weg und es ist teilweise wenig motivierend, mit dem Protagonisten herum geschickt zu werden ohne einen durchgezogenen roten Faden zu erkennen, auf den der Roman hinarbeitet.
Dafür liest sich ein Roman im Vergleich zu einem Comic einfach zu lang. Den Roman um ein paar Einschübe oder Szenen von 600 auf 400 Seiten runterzukürzen hätte ihm meiner Meinung nach gut getan.

Man verstehe mich jetzt nicht falsch: American Gods ist ein gutes Buch. Es ist gut geschrieben und insbesondere die Auflösung ist hervorragend, aber den Lobeshymnen anderer Rezensenten kann ich mich aus oben genannten Gründen einfach nicht anschließen.

American Gods wäre bestimmt ein sehr guter Comic geworden, er wurde aber „nur“ ein guter Roman.


Name: American Gods
Verlag: Heyne
Sprache: Deutsch
Autor: Neil Gaiman
Seiten: 632
ISBN: 0-7472-6374-4{jcomments on}