Peace, David: 1974

Bevor ich mich dem Buch „1974“ selber widme, vorweg einige kurze Worte zu dem recht frischen Subunternehmen, das uns dieses Buch beschert. „Heyne Hardcore“ ist, soweit nicht schwer zu erkennen, eine Gruppe des Heyne-Verlages aus München. Der zählt ja nicht nur zu den größten Verlägen Deutschlands, sondern ist ja auch Teil der Random House-Gruppe, zu denen auch der ehemals erbitterte Konkurrent Goldmann zählt. Die Random House-Leute wiederum sind nur ein Subunternehmen der Bertelsmann-Gruppe und damit dürfte wirklich offenkundig sein, dass wir es hier mit dem Buchverleger schlechthin zu tun haben.
Das „Hardcore“-Label ist dagegen so eine etwas fadenscheinige Sache. Der Verlag veröffentlicht dort eben gezielt Bücher der härteren Gangarten – sei es nun Gewalt oder Erotik, wenn es explizit wird, dann wird es eben „Hardcore“. Der schnelle Euro blitzt natürlich auf und die Intention ist auch ganz klar, immerhin ist das einzige, vereinende Merkmal der Reihe der skandalöse Anklang der Veröffentlichungen. Einerseits ist es ja durchaus wohlwollend zu sehen, dass dadurch Titel wie „Battle Royal“ endlich auch hierzulande mal das bekommen, was eine „Major Label-Veröffentlichung“ in der Musikwelt ist. Ob man nun aber ein Buch damit bewerben muss, dass es „eine Orgie des Blutes und der Gewalt“ ist, wie das Backcover schreibt, sei dahingestellt. Das wirkt billig und plump.
Übrigens heißt es dort auch, dass der Band der Auftakt der „Yorkshire Ripper“-Saga sei. Ich spreche hier unter vorbehalt, habe eben bislang nur diesen ersten Band gelesen, wohl aber etwas Kenntnis von der realen Materie: den „Yorkshire Ripper“ gab es wirklich. Der Mann hieß Peter William Sutcliff und ermordete zwischen 1975 und 1980 13 Frauen. Peace scheint sich Elemente aus dem Profil Sutcliffs für seinen Roman geliehen zu haben und offenbar handelt der zweite Teil der Reihe – 1978 – auch davon, doch das ist dem ersten Band alles recht egal. Die Reihe heißt im Original jedenfalls „Red Riding“, damit keine falschen Erwartungen aufgebaut werden.

Das Buch ist im Original 1999 erschienen. Es ist der erste Band einer vierteiligen Reihe, die sich um die Region Yorkshire in England rankt und dabei rund zehn Jahre – also von Mitte der Siebziger bis Mitte der Achziger – beschreibt. Die Bände sind dabei eher konzeptuell und durch einzelne Figuren, nicht aber durch eine konsequent, direkt aneinander anschließende, personenbezogene Handlung miteinander verbunden.
Der Roman ist aus der Ich-Perspektive verfasst und versetzt den Leser in die Rolle des Gerichtsreporters Eddie Dunford, der an einem erschreckenden Fall dran ist: ein junges Mädchen wird vermisst. Sie ist dabei nicht die Erste, zwei weitere Mädchen wurden bereits ermordet. Die Zeichen stehen also eher schlecht, und das kurz vor Weihnachten. Die Geschichte beginnt am 13. Dezember 1974 und mündet dann an Heiligabend; elf Tage, die für Eddie zur Qual werden sollen.
Alles scheint sich gegen ihn zu stellen. Die Polizei weiß offenbar mehr als sie herausgibt, treibt nebenher illegale Geschäfte. Sein Job bei der Zeitung ist nicht in Stein gemeißelt, sondern steht in ewiger Konkurrenz zu Jack Whitehead, „Gerichtsreporter des Jahres“. Seine Beziehung geht nicht in die Brüche, sondern ist bereits nur noch ein Scherbenhaufen, was auch nicht dadurch besser wird, dass Eddie einer Mutter eines der Mädchen näher kommt. Irgendjemand spielt ihm Informationen zu – oder spielt er ihn nur aus? Menschen sterben rund um ihn herum und Eddie verliert sich alsbald in einem verzwickten Verwirrspiel, einem Puzzle, für das er offenbar nicht die richtigen Teile hat.

Soweit, so bekannt. Einige Elemente zeichnen den Roman allerdings abseits der definitiv gegebenen Härte, die das „Hardcore“-Emblem verspricht, vom Rest des Krimi-Genres ab. Zunächst einmal ist „1974“, alle Historie beiseite, auch eine Referenz auf George Orwells berühmten Roman „1984“. So wie dessen Dystopie allerdings ein düsterer Blick auf die damalige Zukunft war, so ist Peaces Roman ein finsterer Blick auf die eigene Vergangenheit. Die Polizei als Kontrollapparat, die Beobachtung von nahezu jedem, Gewaltenmissbrauch – das alles sind Motive, die Orwell auch seinem Buch mitgab und die Peace genau anspricht. Zwar ist der Kontext gleich doppelt ein anderer – sowohl im Bezug auf die Lebensepoche des Autors wie auch im Bezug auf den behandelten Handlungsrahmen – doch die Botschaften sind ähnlich.

Weniger direkt auffällig, dafür umso prägnanter bei der Lektüre, ist der ungewöhnliche Sprachstil des Buches. Peace schreibt sehr stakatoartig, sehr hauptsatzbasiert. Sein Buch erinnerte mich öfters als Chuck Palahniucks Werke wie „Fight Club“, die ebenfalls mit derartig verkürzten Sätzen arbeiten. Andererseits ist „1974“ im Gegensatz zu den Übersetzungsverbrechen rund um Palahniuck gut ins Deutsche übertragen worden. Hier gebürt dem Übersetzer Peter Torberg sicherlich ein dickes Lob. Einzig eine englische Redensart ist geradezu ermordet worden, aber das lässt sich ja auch nicht immer vermeiden. Dieser kurze Schreibstil entwickelt einen großen Sog und fesselt den Leser sehr schnell an die Handlung, die für sich genommen eigentlich gar nicht mehr so wild ist. Doch die Ausgestaltung und das Fehlen jeglicher Scheu in der Beschreibung lassen den Leser zwischen Faszination, Spannung und Voyeurismus nicht mehr entkommen.
Dennoch ist das mit der Geschichte durchaus ein Problem. Die Handlung des Buches wirkt komplexer als sie, im Nachhinein betrachtet, gewesen ist. Dennoch verliert der Leser, an den Ich-Erzähler gebunden, irgendwann für längere Zeit gemeinsam mit Eddie den Überblick, was dem Lesefluss eher entgegen wirkt. Zwar kann die Sprache des Buches dann noch immer begeistern, aber die Spannungskurve zieht erst gegen Ende wieder an, obwohl mir auch das etwas zu plötzlich erschien.

Auch wenn das Buch laut Aufkleber den „Deutschen Krimi Preis [sic] 2006“ gewonnen und Ian Rankin es als „die Zukunft des Kriminalromans“ bezeichnet hat, so bin ich da etwas zurückhaltender. David Peace beschreibt eine Art sozialen Tumor. Es fault unter der Oberfläche des feinen Yorkshires ganz gewaltig und obwohl man nach außen hin noch immer very british ist (selbst fixende Homosexuelle bieten Eddie spätestens nach zwei Sätzen erst einmal einen Tee an), so sind die Menschen in sich sehr verdorben.
Das macht Peace grandios und wer auf eine derartige Schilderung steht, der wird mit dem Buch vermutlich glücklich werden.
Wer aber eher auf klassische Kriminalgeschichten steht, die auch das Zentrum der Handlung und nicht nur Anlass zur Darstellung der verfallenden Stadt sind, die ein Protagonist mit Logik und Intelligenz knacken kann, der ist bei „1974“ nicht so sonderlich gut aufgehoben, denn als Krimi an sich scheitert das Buch an dem zu als Spielball ungesehener Mächte balancierenden Erzähler.

Man sollte das Buch, das zu dem Zeitpunkt, an dem ich das hier schreibe, ja auch noch in allen größeren Buchhandlungen auszuliegen scheint, wohl einfach mal probehalber anlesen. Mir hat die Tour nach Yorkshire ziemlich gut gefallen, aber auch die tolle Sprache und das verruchte „Label“ können nicht über einige Defizite in der Handlungsentwicklung hinwegtäuschen.


Name: 1974
Verlag: Heyne Hardcore
Sprache: Deutsch
Autor: David Piece
Empf. VK.: 8,95 Euro
Seiten: 384{jcomments on}