Les aventures de Tintin 05 – L'Oreille Cassée

Mit L’Oreille Cassée geht unsere Reihe der Tim-und-Struppi-Rezensionen in die nunmehr fünfte Runde. Nachdem die beiden lose verbundenen Vorgängerbände von so herausragender Qualität waren, bin ich auch mit einer entsprechenden Erwartungshaltung an den vorliegenden Titel gegangen. Ich sollte überrascht werden.
Doch bevor ich da völlig in die Details gehe, kurz etwas zum Titel.

Wem es ad hoc schwer fällt, diesen französischen Titel mit einer deutschen Übersetzung auf Kurs zu bringen, der muss sich nicht sorgen, dass es an ihm läge. L’Oreille Cassée bedeutet wörtlich „Das kaputte“ oder „zerbrochene Ohr“, ein Titel der zwar auf Englisch, nicht aber auf Deutsch vorliegt. Denn offenbar wollten die hiesigen Übersetzer etwas schmissigeres und weniger kryptisches auf ihrem Cover stehen haben und benannten die deutsche Ausgabe um in: Der Arumbaya-Fetisch.
Nun gut. Obskur, aber zumindest nicht ganz sinnlos.

Denn eben jener Fetisch, eine kleine Götzenstatue aus Südamerika, ist Zentrum der Handlung. Und diese beginnt sehr spannend – ganz klassisch stößt ein Museumswärter darauf, dass besagtes Artefakt plötzlich auf der Nachtrunde verschwunden ist. Die Polizei – wer sonst als Dupond und Dupont / Schulze und Schultze – ermittelt, aber auch Tintin/Tim fühlt sich zu dem Fall hingezogen.
Was sich nun zunächst entfaltet ist alleine deshalb schon faszinierend, weil Tim einmal in seiner Heimat agieren kann. Die Handlung gleicht mehr einem Krimi, bald gibt es noch einen mysteriösen Todesfall – und dennoch bleibt die skurrile Eigendynamik der Tintin-Geschichten erhalten, wenn etwa der einzige Zeuge ein Papagei ist, dem auch bald diverse Interessensgruppen auf den Fersen (?) sind.

Nach gut einem Sechstel der Geschichte macht die Handlung allerdings einen Bogen – zum Schlechten. Die Spur führt direkt nach Südamerika und alle Interessensgruppen folgen entsprechend; das kommt wenig überraschend, zeigt doch schon das Cover Tim, wie er mit einem Einheimischen in einem Kanu durch den Dschungel fährt.
Was man bis dahin aber nicht kommen sehen konnte, ist, dass Hergé wieder in alte Muster verfallen würde. So gemahnt schon die Überfahrt eher an die frühen Titel der Reihe, doch richtig übel wird es erst vor Ort. Denn dort herrscht Bürgerkrieg und nicht nur, dass Tim unversehens hineingezogen wird, er verliert darüber auch über weite Strecken des Bandes den besagten Fetisch sowie seinen eigentlichen Fall völlig aus den Augen. Schlimmer noch: Hergé geht es genauso.
Auch die kulturellen Stereotype feiern mit unvorhergesehener Gewalt ihre Rückkehr. Besonders peinlich fand ich eine Szene, in der Tim erschossen werden soll und gleich mehrfach ein Bote reinkommt und berichtet, dass General X gerade entmachtet und General Y nun Anführer sei und abhängig davon soll unser Held dann freigelassen oder wieder hingerichtet werden. Vor allem die Darstellung aller südamerikanischen Soldaten als opportunistische Idioten, die nur darauf warten, dass ein neuer General wiederum die Macht an sich reißt, um „Mort aux tyrans!“ und „Vive le général …!“ rufen zu dürfen, nimmt nicht nur der Szene ihre Dramatik, sondern auch der ganzen Geschichte jedwede Aussicht, erstgenommen zu werden.

Das ist glaube ich auch der größte Makel des Bandes. Selbst Tintin au Congo, bei allem, was er falsch gemacht hat, hat seine Geschichte mit einem relativen Respekt behandelt. Hier hat Hergé zwar besser recherchiert und viele der aufkommenden Figuren und Fraktionen basieren auf realen Vorbildern, aber seine Geschichte behandelt er nicht mit dem gleichen Respekt. Und entwertet damit im Grunde den gesamten Band.

Mein Fazit ist daher überraschend für mich, und zwar überraschend vernichtend. Ich fand L’Oreille Cassée schlecht; von den bisher gelesenen Bänden zumindest klar der schlechteste Teil der Reihe. Und der erste Band, von dem ich deutlich sagen würde: Lasst die Finger davon. Und das obwohl er einen starken Anfang hat. Der Großteil der Handlung macht es im Grunde alles zunichte.

Ich kann vorweg nehmen, dass der Trend nicht anhält und das Fazit zum nächsten Band, L’Île noire, wird anders ausfallen. Aber dieser Band hier ist nicht mehr als ein Ärgernis.

Titel: Les aventures de Tintin – L’Oreille Cassée
Originalausgabe
Autor: Hergé
Verlag: Casterman
ISBN: 978-2-203-00308-8
Seitenzahl: 64 Seiten Vollfarbe
Sprache: Französisch
Preis: 6,25 Euro{jcomments on}