Les aventures de Tintin 02 - Tintin en Amérique

Nachdem mein erster Ausflug in die Anfänge der bekannten Tim und Struppi-Comics ja jüngst einige ziemliche Abgründe gezeigt hatte, was den Zeitgeist betrifft, aus dem heraus Tintin au Congo entstanden war, war auch meine Neugierde geweckt. Also werden wir das hier wohl wirklich, nach und nach, einmal durchgehen und schauen, wo die Schnittmenge von Zeitgeist, Abenteuergeschichte, Nostalgie und „Blickpunkt als Nerd und Rollenspieler“ wohl verlaufen mag.

Der zweite Teil der (farbigen) Reihe heißt Tintin en Amérique (Tim in Amerika bei uns) und bringt damit das gleiche schematische Benennungsschema mit, das schon der Vorgänger und der nur in schwarzweiß erschienene „Tintin au Pays des Soviets“ aufwiesen, dass aber hiernach nur noch ein einziges Mal in Band #20 auftauchen sollte („Tintin au Tibet“). Das Cover zeigt einen ziemlich archetypischen Häuptling, der sein Kriegsbeil schwingend auf den am Marterpfahl gefesselten Tim zeigt und scheint damit den Ton des Bandes zu setzen – doch tatsächlich täuscht dieser Eindruck etwas.

Obschon der Vorgänger sehr sprunghaft und gewissermaßen bar jeden Erzählflusses war, schafft es Tintin en Amérique auf die vorige Geschichte aufzubauen. Tim erreicht nun also Amerika und besucht zunächst Chicago. Da er aber ja im Vorgänger die Pläne eines großen Verbrechersyndikates durchkreuzt hat und nun auch angehalten scheint, dies hier fortzusetzen, beschließt dieses, den jungen Belgier einfach direkt aus dem Weg zu räumen.
Damit ist auch im Grunde das Erzählkonzept für weite Teile des Bandes gesetzt. Immer wieder werden mehr oder weniger obskure Anschläge auf Tim verübt, denen er dann aber auf mal mehr, mal weniger plausible Weise entkommen kann. Einige Passagen wissen dabei durchaus zu begeistern – etwa wenn Tim auf dem Außensims des Hochhauses einen Verbrecher umrundet, der durch seine Wohnung schleicht, oder wenn er einen Scharfschützen narrt, indem er eine zeitungslesende Attrappe vor das Fenster setzt. Andere sind aus heutiger Sicht nicht mal mehr mit Naivität zu Rechtfertigen, etwa wenn Tim einen Raum Betritt, auf dessen Tür „Police“ steht, nur um dann einen Gangster zu zeigen, der im Anschluss dieses Schild abnimmt, woraufhin das darunter den gleichen Raum als „GSC – Gangster’s Syndicate of Chicago“ ausweist. Das ist so plump, das ist der Geschichte nicht würdig.

Man merkt aber schnell, dass es einen Reifeprozess zwischen diesem und dem Vorgängerband gegeben hat. Die Geschichte ist noch immer dünn, aber zumindest in sich geschlossen und nicht mehr rein eine Ansammlung von kurzen Episoden und einige wiederkehrende Figuren wie der trottelige Hoteldetektiv Mike MacAdam machen durchaus Spaß.
Wenn es allerdings um kulturelles Feingefühl geht, so meißelt Hergé auch weiterhin mit dem großen Hammer. Die Indianer leben, so erfährt der geneigte Leser, in „Redskincity“ und entsprechen so ziemlich jedem erwarteten Klischee. Dass sie zeitweise daran scheitern, in den Krieg zu ziehen, weil sie nicht mehr wissen, wo sie das Kriegsbeil vergraben haben, macht es nicht besser.
An ein, zwei Stellen kann man Hergé sogar „unterstellen“, sich umgekehrt auch etwas in der Kritik am kapitalistischen Amerika zu üben, auch wenn ich zugeben muss, dass mir das in seiner Pointiertheit erst aufging, als ich mit einer Bekannten noch einmal darüber sprach. Es ist wohl Auslegungssache, ob man davon ausgeht, dass Hergé hier eine Aussage treffen wollte, oder ob er nur weiterhin Klischees gewoben hat.

In der vorliegenden wie auch an sich allen derzeit erhältlichen Ausgaben sucht man aber zumindest die dicklippigen Schwarzen vergeblich, die in au Congo noch so dominant waren. Das ist aber weniger ein früher, sondern ein später verdienst des Buches. Die rezensierte Druckauflage basiert auf der Ausgabe von 1970, für die Hergé die durchaus zuvor vorhandenen Schwarzen durchgehend ersetzt hat. Angeblich, so liest man im Internet, auf Wunsch der Amerikaner hin. Das ist albern, tut der Geschichte allerdings grundsätzlich keinen Abbruch. Wohl aber ist es erstaunlich inkonsequent, denn eben jene Klischee-Schwarzen werden uns im kommenden Buch eh wieder begegnen.

Alles in allem ist Tintin en Amérique nett, steht sich aber im Grunde in beide Richtungen ein wenig selbst im Weg. Er ist nicht mehr genug von zeitgeschichtlich bedingten, schrecklichen Klischees erfüllt, um einen auf die selbe bittere Art zu unterhalten wie Tintin au Congo, aber andererseits ist er auch noch nicht ausgereift genug, um mit seiner Geschichte derart zu überzeugen, wie es spätere Bände tun.
Wer die Reihe liest, der macht mit dem Band keinen Fehler. Wer aber nur nach den Highlights Ausschau hält, ist vermutlich andernorts besser aufgehoben.
Der Reihe steht an diesem Punkt ohnehin ein großer Schritt bevor, denn der kommende Band, Les Cigares du Pharaon, markiert nämlich einen weiteren Schritt hin zu einem erwachseneren Erzählformat.


Titel: Les aventures de Tintin – Tintin en Amérique
Originalausgabe
Autor: Hergé
Verlag: Casterman
ISBN: 978-2-203-00305-7
Seitenzahl: 64 Seiten Vollfarbe
Sprache: Französisch
Preis: 6,25 Euro{jcomments on}