Lenore - Wedgies

Ah, endlich ist er da, endlich finde ich die Zeit – der zweite Band zu Roman Dirges bizarrem Charakter Lenore, "Wedgies", ist endlich da. Diesmal werden die Ausgaben 5 bis 8 rund um das Mädchen, welches hier so treffend als "antithesis of sugar, spice and everything nice" beschrieben wird, gesammelt.
Für alle, die bisher noch keinen Kontakt mit der kleinen Person mit den Totenkopf-Haarspangen hatten, in aller kürze: Lenore ist ein süßes, kleines Mädchen. Sie ist blond, verspielt, hat eine etwas beängstigende Affinität zur Farbe Schwarz und kommt so, generell gut durch den Alltag. Ihren Alltag. Denn Lenores Leben wird von einem besonderen kleinen Nebeneffekt bestimmt: sie ist tot.
Kein Puls, kein Herzschlag, nichts. Tot. Daher ist ihr Umfeld auch, sagen wir, bizarr zu nennen und lässt sich wohl am ehesten mit den Albtraumwelten eines Tim Burton in Filmen wie 'Nightmare before Christmas' oder "Beetlejuice" vergleichen.

Für alle anderen hingegen lässt sich schnell sagen, dass sich nicht viel verändert hat. Natürlich ist Dirge weiterhin sowohl Autor, Texter und Zeichner der Comics, weshalb weder inhaltlich noch optisch irgendwelche Stilbrüche begangen werden. Die Geschichten sind wieder derb, brutal und teilweise verstörend, der Gesamteindruck mit "tiefschwarz" vielleicht noch am ehesten zu beschreiben. Lenore ist ein lieber Charakter, aber sie ist naiv, mit enormen Zerstörungspotential ausgestattet und in einer Welt gefangen, die bestenfalls "nur" bizarr, die meiste Zeit aber schon geradezu absurd ist.
Etwas schade ist es da, das viele liebgewonnene Charaktere der ersten vier Geschichten hier eher selten auftreten. Taxidermy und Malakai habe ich besonders vermisst, aber auch Ragamuffin kommt eher selten vor.

Das aber bedeutet nicht, dass Dirge die Ideen ausgegangen wären, dafür finden sich doch noch zu viele gute Geschichten in dem Band. Mr. Gosh darf erneut auftreten, die Geschichte um den Hasen "Fufu" wird erneut aufgegriffen, Lenore nimmt Kontakt mit dem Reich der Feen auf und, ein ganz besonderes Highlight, trifft auf die wohl eigenartigste Zahnfee, die je irgendwo zu finden war.
Doch auch abseits des süßen, kleinen, toten Mädchens spielt sich so manch' seltsame Geschichte ab. Etwa die Geschichte von dem kleinen Jungen, der ohne Haut geboren wird, die Selbstmord-Attentäter-Fliege oder Samurai Sloth zeigen deutlich, wie absurd und genial Ideen zu gleich sein können.
Auch "Things involving me", ist zurück, angeblich autobiografische Comics von und über Roman Dirge. Schön sind zuletzt dann noch ein paar einfach visuell umgesetzte, verrückte Ideen – wer also schon immer wissen wollte, was die legendäre Maus, der man erstmals ein menschliches Ohr auf dem Rücken züchten konnte (die gab es ja wirklich...), selbst über die Sache gedacht hat, der wird hier fündig.
Wie schon gesagt, haben die Geschichten weder etwas von ihrer visuellen Wirkung noch von ihrer Boshaftigkeit eingebüßt, wie die obigen Beispiele vielleicht auch schon zeigen.
Eine Besonderheit ist sicherlich dann noch der Abschluss der achten und somit letzten hier gesammelten Ausgabe, denn die Geschichte um Lenore hat, ungewohnt für solche Comic-Strips, tatsächlich einen ebenso unerwarteten und konsequenten wie dramatischen Abschluss. Zwar kam danach noch eine einzelne, neunte Ausgabe in Amerika auf den Markt, doch im großen und ganzen kann man sagen, wer "Noogies" und "Wedgies" im Schrank hat, verfügt über den kompletten Zyklus des 'cute little dead girls'.

Einige nette Gimmicks haben es zudem noch in den Band geschafft. Zwei Gastzeichnungen, zwei jeweils eine gesamte Seite füllende "Pinups" und sieben vollfarbige Seiten zeichnen den Band aus. Vor allem auf den Farbseiten haben sich dann auch gleich noch einige richtige Highlights versteckt.

Insgesamt hat mir der erste Band einen Tick besser gefallen. Das liegt aber weniger an der durchschnittlichen Gesamtqualität, sondern vielmehr daran, das ich dort einige herausragende Einzelstücke mehr zu finden glaubte.
"Wedgies" ist aber dennoch mal wieder ein Muss für Freunde dunklen oder schwarzen Humors, Burton-artiger Optik oder auch, ganz einfach, des ersten Bandes. Roman Dirge ist ein kranker Visionär, dessen Geschichten faszinieren und schon ein ganz eigenes Genre bilden, ebenso wie Lenore ein nahezu einzigartiger Charakter ist.

Mir jedenfalls hat die zweite Reise in ihre Welt extrem gut gefallen und, kurz und knapp, auch "Wedgies" kriegt von mir eine klare Kaufempfehlung.


Roman Dirge{jcomments on}
112 Seiten Softcover, Slave Labor Graphics
ISBN: 0-943151-31-7