120 Tage von Sodom, Die

Alles, was maßlos ist, ist gut.
Der Monsignore in Saló

Es fing alles mit einem Musikvideo an. In ihrem Clip zu dem Song "Babylon A.D." zeigt sich die britische Metalband Cradle Of Filth selbst als eine Gruppe von Männern der höheren Gesellschaft in Nadelstreifenanzügen, die eine Gruppe von jugendlichen Sklaven quält und missbraucht. Dabei wird explizit gar nicht einmal irgendetwas Schreckliches gezeigt, aber das Interagieren der Figuren und die Ausdrücke in den Gesichtern machen klar, dass hier etwas Grausames, Unerhörtes, Menschenverachtendes vor sich geht. Ich finde das Video, im Gegensatz zu dem üblichen Horror-Monster-Blah, ziemlich erschreckend und ich wollte wissen, ob vielleicht noch mehr hinter den Bildern steckt. So stieß ich schließlich auf den Film "Die 120 Tage von Sodom" von Pier Paolo Pasolini aus dem Jahr 1976 - und der übertrifft den Schrecken des Musikvideos bei Weitem.

Der Film orientiert sich an dem Buch "Die 120 Tage von Sodom" des berüchtigten Marquis de Sade, in dem vier weltliche und kirchliche Würdenträger beschließen, gemeinsam ihre perversen sexuellen Fantasien zu verwirklichen. Sie stellen einen Plan auf, nach dem sie eine Orgie unvorstellbaren Ausmaßes verwirklichen wollen. Anschließend heiraten sie gegenseitig ihre Töchter, um ihren Bund zu besiegeln und ziehen sich mit ein paar widerlich entarteten Prostituierten, Wärtern und gefangenen Jugendlichen auf ein Schloss zurück. Der Rest des Buches handelt dann von der Erfüllung des Plans, bei dem jedes Element minutiös abgehandelt wird.
Das Werk von Pasolini ist eine ziemlich vorlagengetreue Umsetzung, verlagert die Handlung allerdings in die Republik Saló ("Saló" ist auch der Originaltitel des Films), die unter dem faschistischen Regime in Italien entstand. Wie bei de Sade sind es auch hier vier mächtige Männer, in diesem Fall faschistische Würdenträger, die Teenager gefangen nehmen, um ihre mehrtägigen Abartigkeiten ausleben zu können.
Um es an dieser Stelle einmal klarzustellen: Es geht hier nicht einfach um Ausschweifungen und "kinky" Sex á la Internet, sondern um entsetzlichen Missbrauch, Vergewaltigung, Folter, absolute Unterdrückung und die vollständige Zerstörung von Ethik und Menschlichkeit und das alles rituell durchgeführt von kranken Psychopathen, die sich nicht nur einfach befriedigen wollen, sondern um ihr Tun auch eine irrsinnige Philosophie spinnen und ihre Untaten mit ein wenig Rhetorik und wild zusammengeklaubten Zitaten zu höheren Idealen verklären.
Dementsprechend exerziert der Film auch jedes Element gnadenlos durch und lässt den Zuschauer 111 Minuten die ganzen Abartigkeiten erleben, von der Planung und den ersten Vergewaltigungen bis hin zu Folter und Mord am Ende.

"Die 120 Tage von Sodom" ist mit weitem Abstand der widerlichste Film, den ich je gesehen habe und so schnell muss ich mir das Ganze nicht wieder antun. Und nicht nur das, er ist außerdem... langweilig. Es ist schwer zu glauben, aber die ganzen Grässlichkeiten, die hier vorgeführt werden sind irgendwo banal. Entsetzlich, ja, auch schockierend, aber in der Art wie sie gezeigt, wie sie von den Perversen im Film buchstabengetreu nach ihrem eigenen Drehbuch zelebriert werden, sich immer wieder widerholen und doch nie zu etwas führen, kommt recht schnell die Frage auf, wozu das Ganze?
Ich will hier keine Lanze brechen für Vergewaltigung und Lustverbrechen, aber die "Protagonisten" im Film bringen es nicht einmal bis dahin. Sie begehen ihre Untaten nicht aus Leidenschaft, sondern mehr oder weniger weil sie es können und weil sie glauben, ganz tolle Hechte zu sein, wenn sie es schaffen, den größten Untaten der Menschheit die Krone aufzusetzen. Dabei sind sie jedoch keine Künstler oder Entdecker, wie sie zu glauben scheinen, sondern dumme, eindimensionale Idioten, denen man schrecklicherweise die Macht gegeben hat, ihre kindischen, aber tödlichen Pornofantasien auszuleben. Auch der Film erzählt auf diese Weise, die Bilder sind neutral, klinisch kalt, fast dokumentarisch. Der Sex ist unsinnlich und mechanisch und die Bilder, obwohl sie jedes Detail explizit zeigen, vermögen nicht zu fesseln und lassen den Zuschauer außen vor.
Vor dem Auge werden die geschmacklosesten Perversionen ohne Sinn und ohne Erklärung abgespult und je weiter man schaut, desto mehr regt sich der Drang, einfach abzuschalten. Selbst wer bis zum Ende durchhält, sieht nur eine weitere sich ständig steigernde Wiederholung derselben Widerwärtigkeiten, die dann einfach endet, als das letzte Opfer der Psychopathen stirbt.

Obwohl der Film dumm, krank und langweilig ist, ist er aber nicht schlecht. Naja, eigentlich ist er schon schlecht, aber nicht schlecht gemacht. Pasolini war ein großartiger Regisseur, der meisterlich mit der Sprache des Films umgehen konnte und der "Die 120 Tage von Sodom" mit Absicht so konzipierte und umsetzte, dass es eine echte Tortur ist, ihn zu sehen. Die Absicht war nicht, einen Unterhaltungsfilm zu schaffen, der dem Zuschauer erzählerisch entgegen kommt, sondern ein Kunstwerk, das das Grauen des italienischen Faschismus kommuniziert, den Pasolini selbst als Kind miterlebte.
Ich weiß nicht viel über den Mussolini-Faschismus, aber auch den deutschen Nationalsozialismus sehe ich in dem Film durchaus repräsentiert: Eine Bande von Dummen, aber verkommenen Männern versichern sich gegenseitig, dass ihre abartigen Ideen eine moderne Art des Denkens sind, bauen sich eine Philosophie, die Handlungen verklärt, die einfach nur Machtmissbrauch, Folter und Mord darstellen und zwingen dann willkürlich menschliche Opfer in ein wahnsinniges Regelwerk, in dem es keine richtigen Züge gibt und das irgendwann nur mit dem Untergang der Opfer enden kann.
"Die 120 Tage von Sodom" ist daher nicht einfach ein übelkeiterregender, sinnloser Film, sondern ein Film, der eine widerliche, sinnlose Wirklichkeit zeigt, die von Pasolini auf ein Modell vereinfacht wurde, dass die unmenschlichen Verbrechen umfasst, jeglichen historischen oder erzählerischen Kontext aber außen vor lässt. Das ist radikal, entlarvend und sehr fordernd für den Zuschauer, andererseits aber auch sehr polemisch, fast schon propagandahaft. Man könnte darüber streiten, ob das so zulässig oder angemessen ist, aber es gibt genug Bücher, Filme und andere Kommentare zum Faschismus und da "Die 120 Tage von Sodom" der einzige Film ist, der sich dem Thema auf diese Weise nähert, ist er allemal sehenswert.

Verständlicherweise ist "Die 120 Tage von Sodom" ob seines expliziten Inhaltes vielfach verboten, indiziert und gekürzt worden. Lange Zeit war er schwer zugänglich und wurde oft wie ein anrüchiger Porno unter der Ladentheke gehandelt. Allerdings gibt es von Legend Home Entertainment eine vollständige Fassung, die in der Reihe "Kino Kontrovers" als deutsche DVD-Veröffentlichung vorliegt. Hier werden einem nicht nur die üblichen Annehmlichkeiten wie Dolby Digital-Sound, Untertitel, O-Ton und Trailer geboten, sondern auch ein paar interessante Dokumentationen und ein umfangreiches Booklet, das Inhalte und Hintergründe erklärt und damit zum Verständnis dieses kontroversen Films beiträgt und auch eine gute Grundlage bietet, den Film im Rahmen einer Lehrveranstaltung einzusetzen. Hier wurde alles getan, um das Werk von Pasolini angemessen und seriös zu präsentieren.

"Die 120 Tage von Sodom" ist kein Film, den man sich gemütlich mit Freunden ansieht und auch kein Sexfilmchen, das man heimlich für sich guckt. Es ist ein umstrittenes Kunstwerk, das schwer anzusehen ist, aber das man vielleicht einmal gesehen haben sollte. Auf jeden Fall ist es ein entsetzlicher Film, der zu Kritik einlädt und nicht jedem zugemutet werden kann.


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