Aborea
Vor gut zwanzig Jahren fand ein kleiner Junge in der Spielwarenabteilung eines Kaufhauses eine Schachtel, die ihn auf der Stelle ganz ungemein anmachte: Schwertschwingende Muskelmänner, feuerspeiende Drachen und hochragende Burgen vor fantastischen Landschaften. Und der Werbetext las sich wie "Abenteuer, Helden, Kämpfe, Abenteuer". Yeah, Baby! Besorgte Eltern wurden bekniet und bebettelt, bis das Spiel gekauft werden durfte.
Der kleine Junge war ich und das Spiel Das Schwarze Auge. Elterliche Sorgen über kindgefährdende Gewaltdarstellungen waren besänftigt, als sich herausstellte, dass die Box nur ein paar komische Würfel, Landkarten, Formulare und Hefte enthielt. Aber für mich erzeugten diese simplen Requisiten eine komplette fantastische Welt in meinem Kopf und waren für mich der Beginn eines Hobbys, an dem ich auch heute noch unvermindert meine Freude habe.
Inzwischen haben wir das Jahr 2011 und ich weiß genau, dass mein zwölfjähriges Ich anfang der 90er völlig begeistert gewesen wäre von der Box, die heute vor mir liegt: Aborea vom 13Mann Verlag, auf dem Cover schlicht und ein wenig ungewöhnlich als "Tischrollenspiel" bezeichnet.
Äußerlich hat Aborea fast alles, was ich erwarten würde: Bildgewaltiges Cover? Check! Mystischer Titel? Check! Bewaffnete Helden? Check! Versprechen von Spannung und Abenteuer? Check! Burgen in fantastischer Landschaft? Check! Drachen und Monster? Nö, aber die verstecken sich bestimmt in der Packung.
Die Box
Der Inhalt der Schachtel weckt auch sofort Erinnerungen: Regelhefte, seltsame Würfel, Landkarten, hmm, keine Charakterbögen. Aber die Zusammenstellung zeigt schon: Wir reden hier von oldschooligem Rollenspiel, keine Figürchen, keine Battlemaps, keine Counter, Kärtchen, Pokerchips oder sonstige Requisiten und Visualisierungshilfen, einfach nur Menschen, Regeln, beschriebenes Papier und Vorstellungskraft.
Bei den Aborea-Würfeln handelt es sich um gewöhnliche w10, aber der Rest des Materials ist auf dem neuesten Stand: Vollfarbiger Druck auf Glanzpapier, modernes Layout, zahlreiche bunte Illustrationen machen einen sehr ansprechenden Eindruck.
Die eigens für Aborea gemalten Bilder von Holger Kirste sind handwerklich auf außergewöhnlichem Niveau, passend, stimmungsvoll und detailliert. Wenn allerdings jemand einmal eine Biographie des Künstlers verfasst, wird darin bestimmt erwähnt, dass er sich um das Jahr 2011 gerade in seiner "Rücklichtphase" befunden hat, denn in jedem einzelnen Bild erstrahlt der Hintergrund in hellem Licht, während sich der Vordergrund dunkler davon abhebt, was in manchen Illustrationen das eigentliche Bildmotiv zu einer schattenhaften Silhouette macht. Dieser Noir-Look ist nicht unschön, aber manchmal etwas anstrengend. Und selbst freigesgtellte Gegenstände und Monster bekommen ihr Licht von hinten, was gerade bei der Ausrüstung wirklich schräg aussieht, da jeder Gegenstand einen harten, digitalen Schlagschatten verpasst bekommen hat, der ihm einen künstlichen Look verleiht. Aber das soll nur eine Bemerkung am Rande sein, denn wie gesagt liegen die Illustrationen weit über dem Durchschnitt.
Aborea ist teilweise gut geschrieben, teilweise etwas kompliziert. Der didaktische Aufbau ist kleinschrittig und reich an Beispielen, was sich für einen erfahrenen Rollenspieler liest wie eine Grundschulfibel für einen Erwachsenen. Aber für Menschen, die rollenspielmäßig bei null anfangen, erschließen sich Konzept und Regeln beim Durchlesen, ohne zu abgehoben oder zu kindisch zu sein. Ein bisschen abtörnend wirkt es meiner Meinung nach, dass auch Aborea die Tradition deutscher Rollenspiele fortsetzt, den Leser fortwährend zu siezen, naja, ist vielleicht Geschmackssache.
Wenn es allerdings um Informationen zur Welt und zum Hintergrund des Spiels geht, ist Aborea wie jedes andere Rollenspiel, knallt einen wie eine Mischung aus Touristenführer, Erdkundeaufsatz und Wiki-Artikel mit Namen, Zahlen und Informationsstückchen zu. Auch sprachlich sind diese Texte nicht mehr so erzieherisch, wirken teilweise sogar eher trocken. Die Namen in Aborea sind irgendwo aus dem großen Buch der Fantasynamen entnommen, bis auf die Elfen, die zu fremdartig sind, um sich auf die Buchstaben des deutschen Alphabets zu beschränken oder diese wie gewohnt auszusprechen. Hier wäre eine ebenfalls anfängerorientierte Herangehensweise wünschenswert gewesen.
Aborea scheint in der Hinsicht auf eine Zielgruppe ausgerichtet zu sein, die zwar keinerlei Ahnung von Rollenspiel hat und darum die Regeln kleinschrittig erklärt bekommen muss, sich aber problemlos einen komplexen Hintergrund aus langschweifigen Artikeln zusammensetzen will.
Die Regeln
Regeltechnisch setzt Aborea auf bewährte Konzepte: Charaktere verfügen über die klassischen Attribute Stärke, Geschicklichkeit, Konstitution, Intelligenz und Charisma, die sich ausschließlich in abgeleiteten Werten und Boni niederschlagen. Dazu kommt eine kurze Liste von Fertigkeiten, über die alle Würfelproben im Spiel abgewickelt werden.
Das Würfelsystem läuft über einen w10, mit dem man die Schwierigkeit einer Aktion übertreffen muss. Zu dem Wurf werden der Fertigkeitswert und Boni aus Attributen und Ausrüstung addiert. Allerdings ist eine "1" ein automatischer Fehlschlag, während eine "10" weitergewürfelt werden darf. Das führt dazu, dass jeder fünfte Wurf entweder ein Fehlschlag oder ein Glückstreffer ist, was besonders bei Anfangscharakteren die Werte weniger ins Gewicht fallen lässt und selbst bei hochstufigen Charakteren dazu führt, dass eigentlich sehr sichere Proben fehlschlagen können.
Das Kampfsystem ist ebenfalls ziemlicher Standard: Initiative, Kampfrunden, Kampfaktionen, Verteidigungswert, Lebensenergie. Aus Rolemaster entlehnt ist der Kampfbonus, der sich aus Können und Ausrüstung des Charakters errechnet und den man je nach Situation auf Angriff und Verteidigung verteilen kann, eine nette taktische Option.
Die Regeln zur Magie sind extrem einfach gehalten: Zauber werden nach Spruchlisten gelernt und funktionieren automatisch, wenn man genug Magiepunkte zur Verfügung hat. Kampfzauber werden allerdings teils wie Angriffe gewürfelt. Die Bandbreite an Sprüchen entspricht dem typischen Fantasy-Angebot: Heilung, Schaden, Teleport, Schutzschilde, Hellsicht usw.
Bei der Charaktererschaffung muss man sich in Aborea für eine Rasse (Menschen, Zwerge, Elfen, Halblinge und Gnome sind im Angebot) und eine Klasse (Krieger, Zauberer, Dieb, Priester, Waldläufer) entscheiden. Die Rasse hat keine großen regeltechnischen Auswirkungen und ist größtenteils eine kosmetische Wahl. Die Klassen bringen allerdings jeweils spezielle Vorteile und Fähigkeiten mit sich. Außerdem sind Steigerungskosten für Fertigkeiten von Klasse zu Klasse unterschiedlich, ein sanfter Zwang, den Charakter nach seinem Stereotyp zu entwickeln. Allerdings ist die Spezialisierung nicht so stark wie etwa in D&D und auch ein Gruppe, die nur aus Halbling-Dieben besteht, hat jede Chance, einen Kampf oder ein Abenteuer zu bestehen.
Selbstverständlich gibt es Regeln zur Charakterentwicklung. Mit Erfahrungspunkten werden Stufen erreicht und bei jedem Stufenanstieg erhält der Spieler ein Punktebudget, für das er Eigenschaften verbessern oder hinzukaufen kann.
Insgesamt bietet Aborea ein altmodisches Regelsystem, das einfach genug ist, dass man es nicht kaputtkriegen kann. Nicht besonders innovativ und vielleicht auch nicht das Spiel, mit dem man alt wird, aber für Anfänger, die Rollenspiel einmal ausprobieren wollen und erst herausfinden müssen, welcher Spielstil ihnen zusagt und ob ihnen das Konzept überhaupt gefällt, ist es gut geeignet.
Die Welt
Übrigens: "Aborea" ist der Name der Welt, in der die Abenteuer stattfinden. Aborea besteht aus verschiedenen Kontinenten, von denen einer, Palea, näher ausgeführt ist. Palea ist verdammt groß. Und wenn ich sage "verdammt groß" dann meine ich "Eurasien". Und, wie gesagt, es gibt noch andere Kontinente.
Die Aborea-Box enthält eine detaillierte Karte von Palea und die ist DIN A0 groß. Ja, null, also so groß wie 16 Schreibmaschinenblätter. Wie üblich gibt es eine Geographie aus Gebirgen, Gewässern, Vegetation, Wegen und Städten, die recht realistisch daherkommt: Flüsse fließen von den Bergen ins Meer, Straßen folgen der Landschaft und Städte liegen an Wegkreuzungen, Flüssen oder Gebirgspässen. Keine fliegenden Festungen und Totenkopfinseln in Sicht.
Obwohl die Karte von Palea übersäht ist mit Namen von Flüssen, Meeren, Städten, Wäldern und Ländern, ist nur das Land Trion, das einen kleinen Teil der Karte bedeckt, von Geschichte und Städten her näher beschrieben, die direkten Nachbarn werden kurz abgehandelt. Der Rest der Welt ist steht anscheinend zur freien Ausgestaltung zur Verfügung. Ich finde es etwas seltsam, auf der einen Seite eine gigantische Karte zu haben, auf die man nicht spucken kann, ohne einen Namen zu treffen, auf der anderen Seite inhaltlich das Ganze aber derartig offen zu lassen.
Der Hintergrund von Aborea an sich ist ein altbekanntes Tolkien-Robin Hood-Setting, wie es die meisten Leute erwarten, wenn sie das Wort "Fantasy" hören. So ziemlich alle Leute in Aborea sind Menschen, dazu gibt es bärtige, trinkende, bergbauende Zwerge (mit verschiedenen Unterarten), spitzohrige, esoterische-magische naturliebende Elfen (ebenfalls mit mehreren Untervölkern), lebensfrohe Halblinge und unterirdische technikverliebte Gnome. Auf der Gegenseite warten natürlich Monster wie Orks, Oger und Goblins sowie der Reigen der üblichen Kreaturen und mythischen Wesen. Aborea hat eine ziemliche Menge an Göttern, die so ziemlich jeden Lebensbereich abdecken, allerdings fast ausschließlich positiv sind oder zumindest neutrale Konzepte verkörpern. Dunkle Götter oder dämonische Mächte als Gegenspieler gibt es in der Kosmologie von Aborea nicht.
Für die ersten Schritte in Aborea bietet das Spiel ein kurzes Soloabenteuer, ein ausgestaltetes Gruppenabenteuer um die Gänge unter einer Ruine im Wald, die als Räuberversteck dient, sowie einige halb ausgearbeitete Szenarien. Für Rollenspieler ist das Ganze Standardkost, aber bietet Neulingen eine gute Möglichkeit, sich in das Konzept Rollenspiel einzugewöhnen und versorgt den Spielleiter mit Material für die ersten paar Spielrunden.
Alle Abenteuer gehen aus, dass die Charaktere alle aus dem Rollenspieldorf Leet (jau, das Dorf heißt "1337", toll, oder?) stammen, einem stereotypen Ort in einem riesigen Waldgebiet am Rande des Reiches Trion. Wie üblich sind die Dorfbewohner unfähig, sich um die ganzen Gefahren und Abenteuer zu kümmern, die dort abgehen, weswegen man die Dorfjugend umsichtig zu Magiern, Kriegern, Dieben, Priestern und Waldläufern ausgebildet hat, damit die einem die Probleme vom Hals schaffen.
Auch zu Leet gibt es eine Karte, diesmal in einer dreidimensionalen Vogelperspektive auf den Ort, in der die ganzen Gebäude detailliert und schön zu erkennen sind. Die strohgedeckten Dächer und die Holzpalisade erinnern mich irgendwie an das Dorf von Asterix, eigentlich ganz hübsch.
Auch in diesem ganzen Bereich wartet Aborea nicht mit großen Neuerungen auf, dafür wurde das schon Bekannte nochmal nützlich und verständlich umgesetzt.
Der Preis von Aborea ist mit unter zwanzig Euro unschlagbar und billig genug, dass man das Spiel auch schon einmal verschenken kann. Der Online-Support des Spiels ist ebenfalls ordentlich, neben dem Charakterbogen zum selbstausdrucken werden unentgeltlich eine Reihe von Abenteuern angeboten, die ständig ausgebaut wird. Außerdem ist der 13Mann Verlag im Augenblick dabei, die Abenteuer ihrer Rolemaster-Reihe zusätzlich mit Aborea-Werten auszustatten, so dass Aborea schon jetzt hinsichtlich der Verfügbarkeit von Abenteuern zu einem der besser ausgestatteten Systemen in Deutschland zählen dürfte. Gerade für Neulinge finde ich es toll, dass man nur ein sehr preiswertes Produkt erwerben muss und trotzdem auf einen solchen Support bauen kann. So etwas spricht dafür, dass man weniger das Geld als vielmehr die Mission im Kopf hatte.
Fazit:
Mit fällt es schwer, am Ende ein Urteil über Aborea zu fällen. Ich weiß, dass das Spiel, wenn es vor zwanzig Jahren so herausgekommen wäre, der Hammer gewesen wäre. Der Look und der Preis sind auch in heutiger Zeit noch toll und ich kann mir durchaus vorstellen, dass Aborea für den einen oder den anderen ein Einstieg ins Hobby Rollenspiel sein könnte. Andererseits sehe ich bei Aborea im Bereich Attraktivität und Einsteigerfreundlichkeit noch viel Potential - Fertige Charaktere und ein Tutorial-Szenario, das man noch vor dem Durchlesen spielen kann und das einem die Grundbegriffe des Systems beibringt, hätten die Einstiegsschranke extrem gesenkt. Dafür hätte man im Detailbereich der riesigen Welt einiges einsparen können.
Aborea ist ein schönes, klassisches Spiel zu einem Preis, bei dem man nichts falsch machen kann. Aber ich erwarte nicht, dass es die Box jetzt hunderte von Neulingen für Rollenspiel begeistern und das Hobby zurück in die 90er führen wird, eher wird sich Aborea im Regal von Rollenspielern finden, die gern ihre jungen Verwandten bespaßen wollen.
Mit freundliche Unterstützung von 13Mann.
Titel: Aborea
Originaltitel
Autor: Sebastian Witzmann
Verlag: 13Mann Verlag
ISBN: 978-3941420199
Sprache: deutsch
Preis: 19,95 Euro{jcomments on}