Flucht von Valmorca
Wenn es euch so geht wie mir, dann seid ihr von dem vorliegenden Produkt vermutlich erst mal erstaunt: Flucht von Valmorca war ein Titel, von dem ich bisher noch nie gehört hatte. Erschienen bei Ace of Dice (via Book on Demand), basierend auf dem Destiny-Regelsystem … das war mir alles neu. Fangen wir daher mal vorne an.
Flucht von Valmorca ist ein in sich geschlossenes, kleines Rollenspiel. Das heißt, auf den 76 Seiten des vorliegenden Buches finden sich sowohl Regelkern, Setting wie auch eine kleine Kampagne nebst Solo-Abenteuer. Also generell eine Menge Stoff, was direkt die Frage erweckt, wie das wohl alles passt.
Das Buch ist als Softcover im relativ eigenwilligen Format 17x22 erschienen, das aber insgesamt angenehm zu lesen ist und gut in der Hand liegt. Das Buch ist vollfarbig von der ersten bis zur letzten Seite, was ziemlich imposant ist, aber vermutlich Hauptgrund dafür, dass es zugleich mit 17,90 EUR durchaus spürbar ins Portmonee donnert. Es gibt eine kommerzielle PDF-Version bei DriveThru, die zum Zeitpunkt der Rezension für günstige 8,93 EUR zu haben ist, was allerdings ein Angebotspreis gegenüber sonst nur marginal geringeren 16,27 EUR darstellt.
Das Cover ist, wie auch die Innenillustrationen, von John Moriarty angefertigt worden und ist handwerklich gute Arbeit, überragt aber nicht wirklich. „Nett“ ist da vielleicht das unliebsame Schlagwort. Was mir extrem gut gefallen hat, ist die Seitengestaltung, die ausschaut, als würde man auf Sand herabschauen, mit Steinen und Bewuchs am Rand. Schade hingegen finde ich, dass die Gesamtzahl von Abbildung irrsinnig gering ist. Neben dem Cover findet man auf den 76 Seiten noch genau vier weitere Bilder. Es gibt relativ zahlreiche Karten von schwankender Qualität, aber die sind als Stimmungsmacher weit weniger wirksam und ein paar Illustrationen, etwa der Haupt-NSCs, hätten geholfen.
Kommen wir nun zum Inhalt. Ich beginne mal, auch wenn es in dem Buch den Abschluss bildet, mit dem Regelwerk. Dieses verwendet als Alleinstellungsmerkmal einen so genannten W66. Effektiv bedeutet dies, dass der Spieler analog zu einem sonst üblichen W100 bzw. W% nicht zwei W10, sondern zwei W6 würfelt, die Zehner- und Einerstelle einer Zahl bilden. Das funktioniert natürlich erst einmal genauso, führt allenfalls zu der Kuriosität, dass in dieser Zählweise etwa die nächst größere Zahl nach 36 die 41 ist. Nun gut.
Das Regelwerk bemüht sich generell um einen sehr einfachen Zugang, scheitert daran aber an mehreren Punkten. Die Werte des Charakters werden in einer Art Matrix verzeichnet: Dort gibt es als Zeilen „Charisma“, „Stärke“, „Geschick“ und „Intelligenz“ sowie als Spalten „Natur“, „Gesellschaft“, „Kampf“ und „Magie“. Die Idee ist cool – will ich etwa Etikette zeigen, nehme ich den Schnittwert von Charisma und Gesellschaft, will ich hingegen eine Intrige durchschauen vielleicht den von Intelligenz und Gesellschaft.
Leider verbaut sich das System den eigentlichen Probenmechanismus derart umfassend, dass diese scheinbare Übersichtlichkeit schnell zum Teufel geht. Wie üblich verwendet man einen Würfel für die Zehner- und einen für die Einerstelle um so die gewürfelte Zahl zu bestimmen. Regulär jedenfalls. Ist es aber eine „optimistische“ Probe, so zählt automatisch der niedrigere W6 als Zehner (man muss ja unterwürfeln), bei „pessimistischen“ Proben hingegen der höhere W6. Modifikationen werden in +3 bis -3 angegeben, werden allerdings auf die Zehnerstelle (!) des Wertes angewendet; eine Probe +1 bei einem Wert von 34 muss also eine 44 unterwürfeln. Dazu kommen noch der Erfolgswert, kurz EW, bei dem beide W6 addiert werden, sowie die EW-k und EW-g, bei denen nur der kleinere bzw. größere W6 den EW stellt.
Dies wird beispielsweise in vergleichenden Situationen gewürfelt, wo mit die Differenz beim EW ein Mittel ist zu entscheiden, wer von beiden letztlich besser war in dem, was er getan hat. Mich stört daran allerdings, dass bei diesem Mechanismus die Erfolgsaussichten an einen willkürlichen und von den eigentlichen Charakterwerten weitestgehend losgekoppelten Mechanismus geheftet wurden.
Das ist noch nicht alles, aber zugleich schon einmal mein Hauptgrund, das Destiny-Regelsystem nur eingeschränkt empfehlen zu können. Hinzu kommen etwa noch, dass die „Talente“ (sozusagen die „Heldenkräfte“ in dem System) durchweg mit (Pseudo-)Lateinischen Namen bedacht sind und ich zumindest nicht aus dem Stehgreif wüsste, was ein Spieler von mir will, wenn er „Malyuratia“ einsetzen will. Mein Stowasser aber auch nicht.
Das Soloabenteuer hingegen ist okay. Es ist kurz und hat ein paar Stolpersteine im Design – wenn irgendwo steht, dass man nun auch ein Talent einsetzen könne, nimmt einem das halt etwas den Reiz, weil es die eigenen Kräfte strickt kontextsensitiv macht – aber entschädigt auch mit ein paar echt schönen Szenen. Allerdings ist es auch sehr, sehr straight und beinhaltet einige geskriptete „Du bist jetzt tot.“-Momente, die ich nur mit Wohlwollen hinnehmen konnte.
Es stellt auch zugleich einen netten Einstieg in das Setting dar. Valmorca ist eine Gefangeneninsel und die Spieler sind eben solche. Die Gefangenen sind in verschiedene Lager eingeteilt und daraus entsteht ein recht eigenwilliges und bisweilen gefährliches Sozialgefüge. Es gibt fünf Volksgruppen, denen die deportierten Charaktere angehören können, aber bei denen wiederum wenige Überraschungen. Eisige Nordland-Barbaren, vage umrissene, demütige „Quell der Zivilisations“-Gottesfürchtige, ein Seefahrtsvolk, Steppenleute mit Bögen und ein Wüstenvolk mit aufbrausendem Temperament – Valmorca geht hier auf Nummer Sicher. Aber das ist auch okay, im Grunde sind auf der Insel ja eh erst mal alle gleich.
Sehr schade ist hingegen, dass der Fokus ganz klar auf eines der Lager gelegt wurde. Fünf Lager gibt es auf der Insel, aber den Spielern ist es nicht freigestellt, wo sie beginnen und auch SLs, die kreativ werden wollen, finden wenige Anhaltspunkte in dem Buch. Hier nun bemerkt man die Kürze des Bandes dahingehend; mehr als die wirklich notwendigen Kerninformationen wird selten gegeben.
Bleiben noch die 29 Szenarien – und mit denen tue ich mich auch sichtlich schwer. Es sind, ohne Zweifel, gute darunter. Jedes von ihnen umfasst grob eine Seite und ist dementsprechend schematisch dargestellt, aber für einige Szenarien reicht das, um eine gute Outline zu liefern. Aber es gibt auch so andere Fälle – und wer sich nicht spoilern möchte, der möge den folgenden Absatz überspringen. In Szenario 11, „Iliss’ Geheimnis“, setzt Lagerchef Torgar die Spieler auf dessen Geliebte Iliss an, da er glaubt, sie sei untreu. Was irgendwie auch stimmt. In der Zusammenfassung des Abenteuers aber steht, dass der Schamane Zhariad sich ihrer „in Torgars Gestalt bemächtigt“, klassisches Motiv an sich. Nur taucht das dann im Text nicht mehr auf. Im Gegenteil, die Spieler erwischen die beiden noch am gleichen Tage und sehen „Iliss und Zhariad nackt aufeinander“ sitzen. Ja was denn nun? Wenn die Synopsis stimmt, wie erkennen sie ihn dann? Wenn sie nicht stimmt, dann hakt es offenbar an anderer Stelle dafür gewaltig.
Leider kranken viele der Szenarien entweder an Railroading, Nachlässigkeiten oder schlichtweg an ihrem Maßstab. Denn manche der 29 Szenarien sind eher etwas, was in anderen Abenteuern vielleicht eine Begegnung oder ein Ereignis wäre.
Ich denke schon, dass man aus den gebotenen Szenarien wie auch dem Setting eine ganze Menge machen könnte, aber das ist nichts, was ich in dieser Form aus dem Buch heraus leiten würde.
Das ist irgendwie leider auch das Gesamtfazit zu diesem Buch. Es stecken gute Ideen darin, Setting, Abenteuer und sogar Regelwerk zeigen gute Ansätze. Aber es bleibt eben genau dabei – bei Ansätzen.
Das grundlegende Konzept – „kaufe ein Buch für unter 20 Euro, und du kannst locker 30 Abende Spaß mit Freunden haben“ – ist stark und sehr lobenswert. Die Aufmachung ist okay und der Inhalt in Teilen auch. Aber halt nur in Teilen. Der Autor schreibt auf der zugehörigen Webseite souverän, die Verantwortung für Inhalt und Design, Layout, Korrektorat, Webseite und Webmarketing lägen vollständig bei ihm.
So beeindruckend das ist – unter einigen kritischen Blicken und mit entsprechenden Optimierungen hätte es ein durchweg empfehlenswertes Buch werden können.
So verbleiben wir mit einem Werk, dass von der Grundidee her unterstützenswert ist, aber bei mir vor allem die Hoffnung hinterlässt, dass es bessere Nachfolgeprodukte nach sich ziehen könnte.
Ob das alleine den Kauf rechtfertigt, muss jeder mit sich selber ausmachen.
Titel: Flucht von Valmorca
Originalausgabe
Autor: Alexander Schiebel
Verlag: Ace of Dice
ISBN: 978-3-842-341937
Seitenzahl: 76 Seiten Softcover, vollfarbig
Sprache: Deutsch
Preis: 17,90 EUR
Mit freundlicher Unterstützung von Ace of Dice und Sphärenmeisters Spiele. {jcomments on}