Kleine Ängste (2003)

Erinnern Sie sich an die Zeit,
als Sie jung waren,
und Sie sich vor allem gefürchtet haben,
was des Nachts umherstreifte?

Haben Sie sich jemals gefragt,
wohin diese Schrecken verschwunden sind?
vom Backcover von Kleine Ängste

Es war ja schon eine ganze Weile angekündigt und wohl eine der wenigen eigenständigen Neuheiten der SPIEL 2003 – die deutsche Ausgabe von "Kleine Ängste". Da das Spiel inhaltlich recht umstritten ist und Oliver Hoffmann und Oliver Graute ihrerseits noch einiges verändern wollten, war ich auch entsprechend gespannt auf den Band.

Sonderlich dick ist er sicher nicht, mit seinen 120 Seiten in einem Format irgendwo unterhalb von DinA4. Dafür aber optisch sehr ansprechend: ein mattes Hardcover, kräftiger Druck und eine faszinierende Coverillustration von Samuel Araya, der unter anderem auch für die Cover von einigen "All Flesh Must Be Eaten"-Büchern und der zweiten Edition von "Unknown Armies" angefertigt hat. Sehr schön, doch wird das von der Innengestaltung noch einmal übertroffen: das Layout wie auch die Illustrationen (genauer gesagt: Fotocollagen) sind komplett neu von Oliver Graute persönlich angefertigt worden und absolut großartig geworden. Der Stil ist sehr stimmungsvoll, plastisch und teilweise auch recht heftig für zart besaitete Leser (ein wunderbares düsteres Foto von einer verlassenen Schaukel findet sich recht zu beginn, darunter heißt es dann "Ich habe ihm nur für eine Sekunde den Rücken zugewandt. Nur für eine Sekunde. Und als ich mich wieder umdrehte ... war er weg."), doch die sind hier ohnehin falsch.

Worum also geht es nun in diesem Buch? Es geht um Kinderängste. Die Spieler übernehmen die Rollen von Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren in einer Welt, die sich den klassischen Kindheitsängsten stellen müssen. Diese gliedern sich in verschiedene Ebenen, von ganz weltlichen zu sehr okkulten Problemen.
Die Unschuld und der kindliche Blickwinkel, noch unbefleckt von der Welt der Erwachsenen, ermöglicht es Kindern, all die Schrecken wahrzunehmen, die 'in dem Land unter dem Bett' (eine, wie ich meine, sehr gute deutsche Adaption für die amerikanischen Monster im Schrank) lauern. Dort nämlich, unter der Knute des Demagogen, dem größten Feind der Jugend und der kindlichen Unschuld, lauern dort all die Gestalten, die Kinder seit Ewigkeiten fürchten.
Doch während der Demagoge mehr ein Konzept denn eine fassbare Bedrohung darstellt, sind die sieben Könige des Landes konkret und gefährlich. Jeweils einer Todsünde zugeordnet findet man dort den schwarzen Mann (König der Gier), Titania (Königin des Stolzes), Malefiz (Königin des Neides), Rübezahl (König des Zorns), die Pechmarie (Königin der Faulheit), Baba Yaga (Königin der Gefräßigkeit) und Pan (König der Wollust), wobei einmal mehr die gelungene Portierung ins Deutsche (Rübezahl etwa war natürlich in der englischen Ausgabe nicht enthalten) und die ebenso exzellente wie verstörende Illustration des Buches zu betonen ist.
Allerdings birgt unter anderem die Gestalt des Pans birgt jedoch auch die heikelste Seite des Systems in sich, denn wohin die Kombination von Kindern und wollüstigen Übeltätern lenkt, ist offensichtlich. Zwar kann man den Autoren keinesfalls eine Verherrlichung der Materie 'Kindesmissbrauch' vorwerfen, die vorbildlich und mit dem nötige Ernst angefasst wird, doch ist dieses Thema nun einmal enthalten und wen das abschreckt, der wird vermutlich schnell Probleme mit "Kleine Ängste" bekommen. Ebenso wie das Spiel mit einer albernen oder – man verzeih das Klischee – pubertären Gruppe schnell aus den Fugen geraten kann. Hier hat man es definitiv mit einem Spiel für Erwachsene zu tun, ein Hinweis, den man sehr ernst nehmen sollte.

Wer aber gewillt und in der Lage ist, damit umzugehen, der bekommt einen sehr faszinierenden Hintergrund geboten, der zum Glück auch nicht durch unnötigen Regelballast nach unten gezogen wird.
Zunächst einmal ist hier die Sprache lobend zu erwähnen. Sämtliche Regeltermini sind eine kindlichen Sprache angepasst, der Charakterbogen wie ein Poesiealbum aufgebaut und entsprechend stimmungsvoll. Als Beispiel seien hier einfach mal die Attribute genannt, die sich bei "Kleine Ängste" in 'Köpfchen' (Intelligenz, Lernfähigkeit und Kreativität), 'Muskeln' (Körperkraft, Ausdauer und die Fähigkeit, Krankheiten zu widerstehen), 'Hände' (Geschicklichkeit und Raufen), 'Füße' (Gewandtheit und Geschwindigkeit) und 'Geist' (Willenskraft und Selbsterkenntnis).
Dazu gesellen sich dann noch positive Eigenschaften ('Was ich an mir mag') und negative Eigenschaften ('Was ich nicht an mir mag'), die man bei der Erschaffung mit GP (nicht etwa Generierungspunkte, Gummipunkte sind gemeint) kaufen kann. Diese tragen dann Namen wie "Ich stamme aus gutem hause", "Ich kenne eine Autoritätsperson", "Ich brauche Medikamente" oder "Ich bin eine Schnarchnase".
Proben laufen dann folgendermaßen ab:
Man wählt das passende Attribut und würfelt einen W6. Für jede Eigenschaft, die ebenfalls greifen könnte (beim Schleichen wäre etwa "Ich bin Laut" passend), würfelt man einen weiteren W6. Überwiegen positive Eigenschaft, so addiert man das Attribut mit dem höchsten Würfelwurf, überwiegen die negativen Eigenschaft, so nimmt man entsprechend den niedrigsten erwürfelten Wert.
Simpel, schnell und bequemt während des Erzählens zu machen.

Somit liegt mit "Kleine Ängste" ein hervorragendes Grundregelwerk vor, das nicht nur dadurch glänzt, dass es vollständig ist, sondern auch eine atmosphärische und tiefgängige Spielwelt bietet, die zudem hervorragend illustriert wurde. Die Übersetzung ist – vielleicht bist auf das Detail, dass das Buch den angeblich kindlichen Leser mit 'Sie' anredet – über jeden Zweifel erhaben und ein Musterbeispiel an Einzig erwachsen, und zwar moralisch und nicht nur gemäß Personalausweis, sollte man sein.
Wen die Idee fasziniert, wem die Thematik zusagt, der sollte definitiv einen Blick riskieren, "Kleine Ängste" hat mir rundum gut gefallen!


Name: Kleine Ängste 
OT: Little Fears{jcomments on}
Verlag: Feder&Schwert 
Sprache: Deutsch
Autoren: Jason L. Blair, übersetzt und erweitert von Oliver Hoffmann und Oliver Graute
Empf. VK.: 22,95 Euro 
Seiten: 120