Degenesis
Eshaton. So nannten sie den Einschnitt. Gestern Hochkultur, heute Steinzeit. Feuer regnete vom Himmel, verbrannte das Land, verbrannte die Menschen. Die Erde zitterte, bäumte sich in Qualen auf. Ganz wie ein Fiebriger in den letzten Zügen. Doch die Erde verging nicht. Sie veränderte sich.
- erster Abschnitt aus "Was ist Degenesis?", entnommen dem Degenesis-Grundregelwerk
Degenesis. Lange erwartet. Endlich vollendet. Ein Kunstwerk. Unter Schweiß erschaffen, in Freude gelesen. Zur Rezension vorbereitet. Vom Kritiker betrachtet und bewertet. Das ist Degenesis.
So, geneigter Leser, fanden sie diese Einleitung gut? Oder den Stil in dem es geschrieben war? Wenn nicht, dann könnten Sie möglicherweise Probleme mit diesem Buch haben. Denn in dieser Art beginnt es. Und geht weiter. Eine ganze Zeit lang. Hauptsätze. Nebensätze verschwindend gering anzutreffen. Einsam.
Ich gestehe bereits vorher, das ich ein großer Fan von Endzeit-Szenarien bin. Fallout habe ich am PC mehrmals durchgespielt, die Mad Max-Trilogie oft gesehen und auch das erste deutsche Rollenspiel in einem solchen Setting, Endland, mal angespielt. Aber da gab es im Netz noch ein weiteres Projekt: Endzeit. Doch bald wurde der Name des Projektes zu Degenesis verwandelt, es erschien ein tolles Poster von Marko Djurdjevic, dessen Motiv auch den Einsteigerband „Ein Stern wird fallen“ zieren durfte. Neben diversen Artikeln in der Zeitschrift für dunkle Phantastik (Mephisto) und einem eher dubiosen Comic, kam dann die Umgestaltung der Homepage und schließlich auch das eindrucksvolle Hardcover-Grundregelwerk.
Das Cover zeigt das Degenesis-Logo, sowie eine Vielzahl von Illustrationen, welche in einer Art Collage nebeneinander gesetzt wurden. Sieht gut aus und lässt den Kenner bereits eine Vielzahl der im Buch vorkommenden Kulte erahnen. Auf dem Innencover gibt es dann wieder mal eine der hübschen Karten vom „Kartengott“ Tobias Mannewitz, welche Europa, oder eher dessen Reste, sowie den nördlichen Teil Afrikas zeigt. Da ich einer der frühen Vorbesteller des Grundregelwerks war, bekam ich nicht nur eine Skizze von Marko D. mitgeliefert, sondern auch ein nummeriertes Regelwerk. Für alle da draussen die es interessiert, ich habe Nummer 3 von 1000. Danke, setzen.
Nach dem üblichen Lob- und Dankesabgesang sowie dem Hinweis das Degenesis am besten erst Jugendlichen ab 16 Jahren vorzulegen sei, beginnt das erste Kapitel: Die Prophezeiung des Schakals. Einige Seiten später ist man auch nicht schlauer, hat aber etwas der Atmosphäre der Degenesis-Welt aufgesogen.
Direkt im Anschluß folgt das Buch eins, eingeleitet durch die Kurzgeschichte „Sommer“, die sich um den jungen Nik dreht, einem Bauern, der sich einer Armee der Wiedertäufer anschließt. Dieser Protagonist wird uns noch wieder begegnen. Und der eine oder andere Leser mag vielleicht schon erraten wie die folgenden Kurzgeschichten betitelt sein werden. Nachdem man dann auf zwei Seiten erfahren hat was Degenesis und ein Rollenspiel überhaupt ist, erhält der geneigte Leser einen Überblick über den Inhalt des Buches.
Kapitel Eins, „Forward“ betitelt, beinhaltet eigentlich genau das. In schnellem Tempo und nur bruchstückhaft wird hier auf das Setting, die Konflikte, die Kulte und die veränderten Menschen eingegangen. Dazu gibt es dann Fragmente aus verschiedenen Bereichen, Kurzgeschichten ähnlich. Allgemein wird man hier aber eher von der Materie erschlagen, als das sie einem weiterhilft. Selbst wenn das Kapitel vornehmlich als Einleitung in die Welt und Atmosphäre dienen sollen, wird dies durch die schiere Masse an Anspielungen, Informationen und Bezeichnungen erschlagen. Ein weiteres tut der Schreibstil. Es wird so geschrieben als würde man die Geschichte in einem dunklen Wirtshaus von einem verwirrten Alten erzählt bekommen. Hauptsätze, wertende Kommentare, verbale, erhobene Zeigefinger und eine Schaufelladung Pathos machen den Einstieg schwer und ich hatte immer nur die Hoffnung, das es anders werden wird.
Das zweite Kapitel widmet sich dann den Kulturkreisen. Europa wurde durch den Kometen Eshaton so verändert, das die alten Kulturen zusammengewachsen sind oder gar ganz ausstarben. Die Niederlande und Deutschland wurden zum Beispiel zu Borca, Spanien zu Hybrispania und Italien zu Purgare. Während Europa weitestgehend im Niedergang begriffen ist, erblüht Afrika. Durch eine Verschiebung der Klimazonen sind aus ehemaligen Wüsten fruchtbare Ebenen entstanden. Der von Kometeneinschlägen größtenteils verschonte Kontinent erblüht unter einem ungeheurem Zusammengehörigkeitsgefühl. Man will sich für Jahrhunderte der Unterdrückung an den Weißen rächen und beginnt Europa systematisch aller Schätze, Relikte aus der Zeit vor dem Kometen und Sklaven, zu entledigen.
Da es aber nicht nur die Kulturkreise gibt, sondern auch Menschen die darin leben, beschäftigt sich Kapitel drei mit den Kulten. Menschen neigen dazu Gruppen zu bilden und gerade in einer zerstörten und wilden Welt ist das auch nötig um zu überleben. Hier findet man dann unter anderem die Spitaler, eine Ärztesekte, die gegen die Versporung der Menschen durch den Kometen ankämpft. Mit allen Mitteln, Flammenwerfer inklusive. Mystische Chronisten sammeln und bewerten Artefakte, welche ihnen die Schrotter anschleppen. Richter sorgen für Ordnung, oder das, was sie sich darunter vorstellen. Zwischen den Ruinen und in den Wäldern kämpfen Sipplinge, verwahrloste Wilde genauso wie höher entwickelte Stämme um's überleben. Aus Afrika drängen die Geissler, die Rächer des schwarzen Kontinents, geführt durch die gewinngeilen Neolibyer in die Länder des alten Kontinents. Und so weiter. Die Kulte haben mir sehr gut gefallen. Zwar sind auch hier noch viele Formulierungen und Sätze die ich einfach stilistisch nicht gut oder eher in ihrer Zahl übertrieben finde, aber doch, insgesamt gut.
Buch zwei beschäftigt sich mit Katharsys, dem Regelsystem von Degenesis.
Fünf Attribute (Verstand, Beweglichkeit, Körper, Ausstrahlung und Psyche) reichen von eins bis zehn, wobei vier den Durchschnitt darstellt. Jeder Fertigkeit ist ein Attribut zugeordnet, die addiert den sogenannten Aktionswert darstellen. Unterwürfelt man diesen mit 2W10, gilt die Aktion als gelungen. Der Spielleiter kann auch eine Schwierigkeit verhängen, die dann gleichzeitig überwürfelt werden muss. Ich gebe ein Beispiel: Vim der Schrotter möchte sein Schrottgewehr auf eine angreifende Spaltenbestie abfeuern. Seine Kenntnis Feuerwaffen beträgt zwei und und sein zugehöriges Attribut Beweglichkeit sechs. Somit hat Vim einen Aktionswert von acht. Da der Spielleiter der Meinung ist, das Vims dicke Handschuhe und seine Nervosität das ganze etwas schwieriger machen, verhängt er eine Erschwernis von vier. Vim muss nun mit zwei zehnseitigen Würfeln ein Ergebnis zwischen fünf und acht erwürfeln um erfolgreich zu sein. Er würfelt zwei fünfen und vergeht unter den Klauen der Bestie. Ein Pasch ist übrigens ein kritisches Ergebnis. Liegt der Pasch innerhalb der zu erreichenden Zahlengruppe, ist es ein kritischer Erfolg, liegt er ausserhalb, ist es ein kritischer Fehlschlag. Unser Vim aus dem Beispiel hatte zum Beispiel einen kritischen Fehlschlag, was seine Situation nicht gerade verbessert hat. Bei diesem Würfelsystem möchte ich zwar zu keinem Zeitpunkt meine Chance ausrechnen wollen, aber es funktioniert erstaunlich gut und ist auch einfach, wenn man erstmal dahinter gestiegen ist.
Kapitel fünf bietet nicht nur die Charaktererschaffung, sondern auch meinen größten Kritikpunkt an dem System bzw. Buch. Grundsätzlich ist es ein Baukastensystem, nach dem man sich zuerst seine Kultur, dann sein Konzept und schließlich seinen Kult aussucht. Liest sich so ganz einfach, ist es aber nicht. Zunächst erhält man durch seinen Kulturkreis Boni auf bestimmte Attribute. Dazu dann aber mögliche Fertigkeiten, die zum Kulturkreis passen. Auf diese verteilt man dann sehr wenige Fertigkeitspunkte und wählt ein Prinzip. Dann wählt man aus einem von acht Konzepten aus, für das man wieder einen Bonus auf ein Attribut erhält und wieder passende Kenntnisse auf die man dann wieder wenig Fertigkeitspunkte verteilen kann. Und wieder wählt man ein Prinzip aus der Liste. Als letztes dann die Wahl des Kultes. Kein Attributsbonus, dafür mehr Fertigkeiten und nur unwesentlich mehr Punkte. Bei jedem der Schritte war der höchste Fertigkeitswert jeweils angegeben, freie Charakterwahl definiere ich anders. Zwar wird die Charaktererschaffung durch einen Beispiel erläutert, aber wenn ich sie nicht durch eine Einführungsrunde in dieses Spiel erklärt bekommen hätte, wäre ich wohl daran gescheitert. Danke nochmal an Alexander Malik für den spaßigen Abend nach der mühsamen Charaktergenerierung, eine sehr gelungene Runde! Im Anschluss wird dann noch anhand der Fertigkeiten der Charaktere deren Rang und Ausrüstung bestimmt. Hier zeigt sich das System ziemlich unausgewogen und schafft sehr unfaire Startcharaktere. Während mein Schrotter satte zehn der insgesamt 21 Fertigkeitspunkte für Wahrnehmung und Artefaktkunde ausgeben musste um einen Handkarren, eine Schrotterkeule und ein Schrottgewehr, sowie 200 Chronistenwechsel (die Währung) zu erhalten, bekam der Spieler des Geisslers für Unbewaffneter Nahkampf auf fünf eine Elektropeitsche, eine Flakjacke, einen Helm, Tarnhosen, ein Sturmgewehr und einen Buggy, sowie 5000 Geldeinheiten. Hallo? Es stimmt zwar, das die Geissler gut ausgestattet sind, aber das ist ein Spiel und hier erwarte ich Fairness und Balance bei den Startcharakteren. Ich mit meinem Schrotter kam mir jedenfalls übergangen vor. Genauso vermisse ich ein System für Vor- und Nachteile, mit dem ich mein Alter Ego individuell gestalten kann. Die Prinzipien sind dafür nur ein schwacher Ersatz. Oder freie Zusatzpunkte, so das man den Charakteren je nach Wunsch mehr Fertigkeiten, bessere Atribute oder sogar mehr Geld / Ausrüstung zukommen lassen kann. Gibt es aber nicht. Dickes Minus.
Kapitel sechs geht dann auf eines der elementarsten Prinzipien des Rollenspiels ein, den Kampf. Das grundlegende System wurde ja weiter oben schon erläutert. Interessant fand ich vor allem das Schadenssystem, nun ja, teilweise zumindest. Um mit einer Waffe jemandem zu schaden würfelt man mit einer bestimmten Anzahl Würfel unter einen bestimmten Wert. So hat eine schwere Pistole 9W(9), was bedeutet das man neun Würfel wirft und jeder Wert unter oder gleich 9 einen Schadenspunkt beim Gegner anrichtet. Der Rüstungsschutz des Gegners gibt dabei die Schwierigkeit vor. Leder gibt z.B. einen Schutz von eins, so das jeder Würfel beim Schadenswurf, der eine eins zeigt, von der Rüstung aufgefangen wurde. So weit, so gut. Weniger gut gelungen ist dagegen das System für Verwundungen. Jeder hat ein gewisses Maß an Fleischwunden, die er aushalten kann bis es kritisch wird. Diese sind in drei Bereiche aufgeteilt: Kopf, Ober- und Unterkörper. Die Anzahl der Fleischwunden ergibt sich aus dem Wert in Körper und der Kenntnis Härte. Während ein normaler Mensch nur zwei bis drei Fleischwunden am Kopf aushält, können so richtig harte Brocken dort soviel wegstecken wie andere im gesamten Oberkörper. Das ist ja soweit okay. Wenn die Fleischwunden in einer Region allerdings verbraucht sind, dann geht es in den Traumbereich. Dieser ist allerdings nicht nach Körperzonen aufgeteilt, was zu bizarren Situationen führt. So starb der Wiedertäufer unserer Testspielrunde nur, weil sein explodierender Tank für den Flammenwerfer an seinem Oberkörper befestigt war. Hätte er den Tank auf dem Kopf getragen, hätten die dortigen nicht gebrauchten Fleischwunden den Schaden abgefangen und er hätte überlebt. Der Traumaschaden ist auch so bemessen, das der erste Schuß meist nicht tödlich ist. Im Grunde der Fairness ist das ja okay, aber wieso man meist noch nach Kopftreffern aus Sturmgewehren mit minimalen Abzügen weiterlaufen kann, ist mir ein Rätsel. Das passt nicht zu dem brutalen und düsterem Setting.
Buch drei, Almanach genannt und von der Kurzgeschichte Winter eingeleitet. Das Kapitel sieben enthält unter anderem die Ausrüstung der Kulte, sowie Werte für Waffen und Rüstungen. Sehr seltsam ist hierbei, das die Gasmaske, wohl DAS Utensil bei Degenesis, nicht in der Liste aufgeführt ist. Kapitel acht dreht sich um die Droge Burn, jenem Übel das die Menschen zwar eine Zeitlang von ihren harten Leben ablenkt, sie aber mit den tödlichen Sporen infiziert. Ein kurzes Buch, deswegen direkt weiter zu...
... Buch vier: Sperrzone. Hier endet auch die Geschichte von Nik, den wir bisher bei jedem neuen Buch begleiten durften mit der Geschichte „Frühling“.
Historie, das Kapitel neun, hat mir sehr gut gefallen, bietet es doch endlich mal harte Fakten, was denn nun wann mit der Erde passiert ist. Dabei ist es keine sture Ansammlung von Fakten, sondern wird aus verschiedenen Archiven vorgestellt. Zwar wiederholen sich die Fakten bei der Intime Zeitlinie der Spitalier und der Outtime Zeitlinie für den Spielleiter, das wird aber durch die unterschiedlichen Gewichtungen einzelner Aspekte begrenzt. Doch, sehr interessant.
Bei „Verdeckte Operationen“ werden dem Spielleiter dann Szenario- oder gar Kampagnenideen zur Verfügung gestellt. Liest sich interessant, ist aber definitiv nichts für Spieler die sich etwas von der Spannung aufrechterhalten wollen.
Typische Gegner bietet dann Kapitel 10. Hier tummeln sich aus der Kryostasis erweckte Schläfer, Menschmaschinen, Spaltenbestien und mutierte Hunde. Hätte etwas mehr sein können, ist so aber auch nett. Die Abteilung „Homo Degenesis“ gehört aber definitiv auch zu den Antagonisten. Diese sind aber wichtig genug das sie eine ganze Abteilung des Kapitels für sich alleine bekommen. Hier werden die Psychonauten beschrieben, Menschen die durch die Sporen des Kometen bizarr mutiert sind und je nach Krater unterschiedliche Fähigkeiten ausbilden, die vergleichbar sind mit Psi-Kräften. Harter Tobak, nicht nur wegen der Zeichnungen in diesem Kapitel.
Das unverzichtbare Spielleiterkapitel ist diesmal erfreulich kürzer gehalten als in anderen Büchern und locker sowie atmosphärisch geschrieben. Weniger die Frage nach allgemein gutem Spiel steht hier im Vordergrund, sondern spezifische Konflikte der Welt werden angesprochen und dem Spielleiter ans Herz gelegt.
Das letzte Kapitel bietet dann, sozusagen als Test für den Spielleiter, ein Einführungsabenteuer. Es ist nicht schlecht, wenn auch etwas zu voll mit unmotivierten Kämpfen für meinen Geschmack. Auch ist es zu kurz um völlig überzeugen zu können, zu viel bleibt ungeklärt. Gerade für ein Einführungsabenteuer hätte man hier mehr tun sollen.
Und so klappe ich die letzten Seiten zusammen mit dem Backcover zu und überlege was ich bisher noch nicht erwähnt habe.
Das ist definitiv das geniale Layout. Fantastische Zeichnungen von Marko Djurdjevic und Klaus Scherwinski sind im ganzen Buch zu finden. Jede Seite ist selbst vom Hintergrund her anders gestaltet, Farbkleckse und Risse laufen durch die Seiten und stützen das Layout. Einerseits sieht es so großartig aus, andererseits hat man des öfteren mehr Layout als Text auf einer Seite. Die Ausbeute an Information ist auf manchen Seiten doch etwas dünn. Rein optisch kann das Buch aber durchaus Maßstäbe setzen.
Wie gerne hätte ich nach langer, gespannter Wartezeit Degenesis als ein Meisterwerk bejubelt, aber die anfänglich nervige Schreibe, die furchtbare Charaktererschaffung sowie einige Seltsamkeiten bei den Regeln verderben mir den Eindruck etwas. Bereuen tue ich den Kauf aber auf keinen Fall, denn Degenesis ist gut. Alleine wegen des fantastischen Artworks lohnt sich beinahe schon der Kauf. Ich mag das Setting und den Konflikt Afrika vs. Europa genauso wie die Schrotter und Spitaler. Degenesis ist kein Meisterwerk geworden, aber sehr weit davon entfernt schlecht zu sein.
Name: Degenesis - Grundregelwerk {jcomments on}
Verlag: Sighpress
Sprache: deutsch
Autoren: Christian Günther, Tim Struck, Marko Djurdjevic, Malte Belz
Empf. VK.: 37,95 Euro
Seiten: 384 s/w