Kingsport - Alpträume im Nebel

Unser nächster Halt auf unserer Tour durch die Lovecraft-County-Reihe liegt vor uns und wir reisen heute gemeinsam in das immens neblige Fischernest Kingsport. Für all jene, die aufgepasst haben und fragen – ja, damit haben wir soeben einen Band übersprungen, denn nach Innsmouth – Küstenstadt am Teufelsriff käme an sich noch Sturm auf Innsmouth dran. Der Anlass ist simpel: Besagtes Buch liegt mir noch nicht vor.

Daher springen wir nun direkt weiter zu Kingsport – Alträume im Nebel, ein ziemlich dickes Buch. Allerdings muss dieser Band auch, anders als seine Vorgänger, alles auf einen Schlag abdecken, denn dieses Mal gibt es keinen separaten Abenteuerband mehr dazu. Aber die vorliegenden 272 Seiten sind ja auch eine Menge Holz.

Das Cover ist ein typischer Manfred Escher und gefällt mir extrem gut. Es ist auch etwas weniger dicht gepackt als andere Fälle, so dass ich mir vorstellen könnte, es könnte auch jenen gefallen, für die die letzten Cover zu überladen waren. Die giftgrüne Farbgebung jedenfalls ist toll und macht direkt Lust auf mehr!

Schlägt man das Buch auf – so ist man vermutlich erst mal erstaunt, denn es ist eben gerade mal nicht alles beim Alten. Irgendwo zwischen dem letzten Band und diesem hier ist das neue „Spielerhandbuch“ erschienen und damit auch wieder das Layout überarbeitet worden. Und meine Güte, das sieht phantastisch aus! Es ist zwar eigentlich „nur“ eine konsequente Fortentwicklung des letzten Designs, aber was der Layouter hier gezaubert hat, ist rundum schön. Eine sehr schöne Randgestaltung, viele kleine Designelemente, alles gut lesbar, alles sehr übersichtlich und genug Platz für die historischen Fotos, um vollauf zur Geltung zu kommen. Wunderbar! Abgerundet wird diese visuelle Freude neuerlich durch eine in einer Kartenlasche hintan beigefügte Karte der Stadt (dieses Mal krumme 61,5x41,5 cm groß), die auch sehr gut im Spiel als Handout verwendbar ist.

Zwei visuelle Wermutstropfen gehen aber mit dem Buch einher. Das eine betrifft die listenartige Zusammenfassung der Lokalitäten innerhalb von Kingsport – in den bisherigen Bänden wurde zur weiteren übersicht die Randspalte zu einer Angabe genutzt, von welcher und bis zu welcher Nummer die Einträge der jeweiligen Seite reichten. Das machte die Navigation sehr einfach, ist aber mit dem neuen Layout verschwunden.
Der andere betrifft ein an sich sehr schönes Gimmick: Die letzten beiden Seiten des Buches wurden für eine völlig intime aufgemachte Broschüre für Touristen in Kingsport verwendet. Wirklich nett – aber das fleht doch geradezu nach einem beigefügten, produzierten Handout. Wurde leider nicht gemacht und die Doppelseite liegt, wie immer bei Pegasus, nur als Kopiervorlage vor. Das ist schade, doppelt, denn Kopieren aus Hardcovern ist ja immer leichter gesagt als getan.

Inhaltlich ist erst mal alles beim gewohnten Bild der Reihe. „Willkommen in Kingsport“ und „Kingsport heute“ sind zwei generischere Beschreibungen des Ortes an sich, seiner Stimmung wie seinen Besonderheiten. Sie bilden, zusammen mit einem weiteren, kurzen Artikel namens „Geplagt von schweren Träumen“ zugleich eine Klammer, innerhalb derer der übliche Stadtführer zu finden ist.
Mit minutiöser Akribie werden auch dieses Mal wieder Häuser und Straßen der Stadt beschrieben, Einwohner geschildert und Plotaufhänger verteilt. Dieses Mal wird auch dem Umland etwas mehr Beachtung geschenkt, was mich extrem gefreut hat.
Alles in allem zwar gewohnte, aber gewohnt gute Kost. Wen die anderen Bände der Reihe angesprochen haben, der findet sich auch hier direkt zurecht.

Allerdings kommt einem schon bei der Lektüre des Traum-Abschnittes so ein Verdacht … kann es bei einem Setting, das so eng mit (Alp-)Träumen verbunden ist, wirklich vermieden werden, auf die „Traumlande“ zu verweisen. Sicher, das Buch ist auch in Deutschland erschienen, aber ich vermute den wenigsten Leuten, die hier mitlesen, muss ich die etwas eigenwillige Historie von limitierten Büchern und wahnsinnigen Hamsterkäufen neuerlich erzählen. Fakt ist: Zu haben ist der Band nicht (zu dem Zeitpunkt, an dem ich das hier schreibe, gibt es vier Privatverkäufe bei Amazon, die von 149,99 bis 299,95 Euro reichen).

Aber gehen wir einfach mal weiter in die Abenteuer hinein und schauen, was da so kommt. Auch hier vorweg noch ein kleines Obskuritum: Normalerweise verweise ich ja auch bei Rezis bei jedem Abenteuer auf den Autor. Das ist meist auch leicht, weil das Buch das auch macht. Dieses Buch hier hingegen nicht.
Ob die Autoren einfach nicht bekannt waren (auf Quellenteil und fünf englische Abenteuer kommen gerade mal vier Autoren, was es schwer macht, das auseinanderzurechnen), weiß ich nicht. Aber es wird umso obskurer, als dass halt die beiden deutschen Autoren nicht nur im Impressum, sondern auch jeweils auf der ersten Seite des Abenteuers mit einer großen Namensnennung bedacht wurden, bei denen anderen aber gar kein Hinweis seht. Seltsam.

Den Anfang macht „Träumereien & Kapricen“. Darin verstirbt ein Künstler, hinterlässt der Nachwelt aber noch einige Werke, deren Wirken nicht nur weit über seinen Tod hinaus anhält, sondern offenbar sogar dafür ursächlich war. Die Prämisse ist cool, die Idee gefällig … aber irgendwie hat das Abenteuer keinen Plot.
Es gibt halt die Ermittlungen bei Tage und, ausgelöst durch die Funde, relativ streng geskriptete Traumsequenzen bei Nacht. Und irgendwann haben die Spieler halt bei Tage alles gefunden, ohne dass es einen wirklichen Durchbruch gäbe, und bei Nacht (vermutlich) die Träume überlebt. Dann ist das Abenteuer vorbei.
Maximal unbefriedigend.

Weiter geht es mit „Tot im Wasser“. Es ist, in seiner Essenz, eine Geisterschiff-Geschichte. Sie ist recht komplex und spannend, bietet einem deutlich mehr als nur eine belanglose Sage, zündet aber auch nicht so richtig durch. Weitere Strafpunkte gibt es für das völlige Fehlen einer Abenteuer-Übersicht, was eben gerade bei den Zusammenhängen geholfen hätte. Pluspunkte hingegen gibt es dafür, dass einige der (auch intime) echt nicht gut lesbaren Handouts noch mal im Klartext vorliegen, damit wenigstens der SL eine Chance hat zu wissen, was abgeht.

Bisher noch eher unüberzeugt kam ich zum nächsten Eintrag, und der ist stark: „Die Hure von Baharna“. Eine liebe Nonne hat gar nicht mal so artige Träume und richtet Nachts derart Sauereien in den Traumlande an, dass wiederum die Spieler gerufen werden, da Abhilfe zu schaffen. Das ist die frische Idee und die Prämisse, auf die ich gewartet hatte!
Das Abenteuer ist gut strukturiert, der Plot ist spannend, die Dramaturgie stimmt und es ist deftig genug, dass es sich „angenehm“ aus der Masse abhebt (ich sag nur „Lustgolem“) und dabei zugleich noch immer eine gute Mythos-Geschichte.
Das Abenteuer ist ganz klar mein Favorit in diesem Band.
Als Randnotiz – außer, dass der geradezu unvermeidliche Tippfehler in Form der „Herrscher Bahamas“ durchgeschlüpft ist (S. 164) – sei aber gerade hier erwähnt, dass das Abenteuer ohne die Traumlande zwar spielbar ist, man das aber nicht gerade geschenkt bekommt. Die Insel Oriab, der Berg Ngranek, die Stadt Zais … oh, bestimmt. Hab nur keine Ahnung, wovon die da reden.
Der Fairness halber sei gesagt: Was man wissen muss, wird auch erklärt. Dennoch fühlte ich mich bei der Lektüre irgendwie … etwas allein gelassen.
Bemerkenswert: „Die Hure von Baharna“ kommt ohne Handouts aus.

Es folgt „Das Bildnis“. Gute Hausmannskost, um es kurz zu machen. Menschen verschwinden und die Spuren führen letztlich zu einem irren Künstler, der seine Geisteskrankheiten an ihnen ausgelebt hat. Und natürlich haben einige Mythoswesen ihre Mandibeln im Spiel. Auch wenn es wieder einmal keine vernünftige Zusammenfassung des Inhalts gibt.
Gut hingegen haben mir hier die Traumvignetten gefallen – die sind ähnlich denen in „Träumereien & Kapricen“, aber anders als da stehen sie hier im Dienste einer übergeordneten Story und sind kein reiner Selbstzweck.
Hat mir gut gefallen, ist aber kein Ausreißer.

Damit kommen die beiden deutschen Beiträge als nächstes und ich kann auch den Autoren mal beim Namen nennen. So stammt „Eternity“ von Mirko Bader; der englische Titel erklärt sich aus einem Eigennamen.
Das Szenario verbindet ein paar klassische Motive rund um Schifffahrt und alte Geheimnisse mit einem sehr feinen Aufhänger, der die Spieler definitiv gekonnt in medias res in die Handlung pfeffert. Das Setting wird dabei schön genutzt und das Geheimnis, das eine Reihe von Morden, die auf einer Hochzeit beginnen und sich danach in eine unerwartete Richtung fortsetzen, vereint, ist schön gelungen. Hinzu kommt etwas, was man mittlerweile schon fast die deutschen Tugenden cthuloider Abenteuer nennen kann – es gibt sowohl eine ordentliche Zusammenfassung zu Beginn wir auch einen umfangreichen Spieltestbericht am Ende. Löblich.

Ebenfalls aus deutscher Feder ist „Hexenjagd“ von Kaid Ramdani, Abenteuer Nr. 6 in diesem Band. Ich bin hier etwas gemischter Stimmung. Es ist sehr eng mit dem Setting verbunden, was ich klar als Pluspunkt sehe, genauso wie den Abenteuer-Überblick und den Spieltestbericht am Ende. Der Plot ist spannend und auch wenn eine Serie von Todesfällen als Aufhänger nicht neu ist, ist das, wie die Art, wie es hier genutzt wurde, ganz sicher auch für erfahrenere Spieler befriedigend. Eigentlich auch sehr cool ist, dass das Abenteuer mit einem Dilemma endet, in das es die Spieler steckt. Aber eine mögliche Art, das Abenteuer aufzulösen, geht mir massiv gegen den Strich und könnte, in meinen Augen, all die gute Arbeit vorher leicht aushebeln.
Aber da wird jeder SL bei der Lektüre schon merken, ob ihm das zusagt oder nicht. Potential hat das Abenteuer durchaus.

Bleibt ein letzter, amerikanischer und somit autorenloser Beitrag: „Das Haus am Rande“. Der Titel zeigt es schon: Hier wird stark auf Lovecrafts „Das merkwürdig hochgelegene Haus im Nebel“ Bezug genommen. Somit haben die Spieler ernsthaft die Chance, einen Schrecken direkt aus Lovecrafts Werk zu konfrontieren. Dafür gilt es aber verschobene Realitäten zu bezwingen, in Träume zu reisen und einigen durchaus ordentlichen Gefahren zu trotzen.
Wenn es auch kurz ist, so bleibt das Abenteuer sicher eines der besseren im Band, aber auch hier bleibt der Band auf hohem Durchschnittsniveau, gelang niemals darüber.

Und irgendwie ist das in weiten Teilen wohl auch mein Fazit. Ich finde das Setting an sich sogar spannender als etwa die Stadt Innsmouth, da mich Atmosphäre und Story-Elemente einfach mehr ansprechen. Aber bei den Abenteuern ist relativ viel Material dabei, das zwar nicht schlecht ist, an das man sich aber vermutlich auch in einigen Jahren kaum mehr erinnern wird.
„Träumereien & Kapricen“ geht halt gar nicht, „Die Hure von Baharna“ ist absolut spitze. Der Rest verteilt sich auf alle Ebenen des Mittelfelds und das macht ein endgültiges Fazit für das Buch recht schwer. Wer auf Kingsport steht oder wer sich denkt „Küstenstadt im Nebel und Alpträume, das ist mein Ding“, der wird hier fündig werden, denke ich. Wer einfach nur auf der Suche nach was Neuerem an der Abenteuerfront ist, der wird aber vermutlich in anderen Bänden des Verlages mehr gute Abenteuer finden, teils sogar für kleineres Geld.

Mit freundlicher Unterstützung durch Pegasus


Titel: Kingsport – Alpträume im Nebel
Autor: Christopher Lang
Verlag: Pegasus Spiele
ISBN: 978-3-941976-30-6
Seitenzahl: 272 Seiten Hardcover
Sprache: Deutsch
Preis: 39,95 Euro{jcomments on}