Taint of Madness

Es braucht nur kleine Ereignisse um einen festen Glauben zu erschüttern - eine in Frage gestellte Freundschaft zum Beispiel, oder eine Ränke schmiedende Regierung, oder das einschüchternde Verhalten eines Arztes, oder unwiderlegbare Beweise einer Schauerlichkeit, älter als die Sterne selbst. Wenn wir diese Veränderung in uns selber bemerken, dann lernen wir schnell, ob wir nun erschreckend normal oder komplett wahnsinnig sind…
vom Backcover von Taint of Madness

Wahnsinn! Das ist allgemein natürlich ein häufiger Ausruf in unserer Welt, denn immer mal wieder findet man Dinge "wahnsinnig faszinierend" oder "total verrückt" … aber jeder, der mit dem Hintergrund von Call of Cthulhu vertraut ist, der weiß auch, dass der Wahnsinn dort ein wesentlich elementareres Element ist.

Schon der oben zitierte Klappentext macht deutlich, wie viele Dinge an der geistigen Stabilität der Protagonisten des Spiels zehren können, doch die praktische Erfahrung, mit anzusehen wie sein(e) Charakter(e) nach und nach dem Irrsinn anheim fallen, ist schon ein Erlebnis.
Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis einer der Cthulhu mit Supplements versorgenden Verlage sich einmal dazu hinreißen lassen würden, dieser Thematik ein Quellenbuch zu widmen, und 1995, zum 20jährigen Geburtstag von Chaosium war es dann so weit und Taint of Madness erblickte das Licht der Welt.
Es ist nun natürlich eine spannende Frage, ob das Buch allen Ansprüchen genügen kann:
ein solches Buch sollte sich kompetent und nicht zu flach mit dem Wahnsinn auseinandersetzen, dabei aber keine trockene, wissenschaftliche Abhandlung sein und dann auch noch spielrelevantes Material bereithalten.
Chaosium entschied sich zu einer Kombination aus allen denkbaren Bereichen (Hintergrundinformationen, Regeln und Abenteuer), doch bevor wir diesen Inhalt näher betrachten, wenden wir uns doch erst mal, wie gewohnt, der Optik zu.

Taint of Madness ist ein klassisches, englischsprachiges Softcover-Buch von gewohnter Normgröße, mit buntem Einband und schwarzweißer Gestaltung der eigentlichen Buchseiten. Das Coverbild erfüllt nahezu rahmenfrei das Frontcover (also nicht, wie etwa bei Trail of Tsathoggua, von einem dicken, blauen Rahmen umgeben) und kommt recht ungewöhnlich daher.
Wo man sonst mehr oder weniger gute Zeichnungen gewohnt ist, fasziniert ein hübsches, collagenartiges Bildnis von Eric Vogt das Auge des Betrachters. Man sieht ein altes, recht verschachteltes Gebäude, thematisch interpretiert wohl eine Irrenanstalt, die zumindest wie ein altes Foto wirkt und seltsam graubraun gefärbt da liegt. Einige der Fenster sind hingegen strahlend weiß und kontrastieren sehr stark mit der Grundfarbe des Gebäudes. Wer das Bild dann noch länger betrachtet, dem fällt wohl zum einen der Mond oben links auf, der mit einem minimalen Grünstich auch leicht befremdlich wirkt und letztlich dann wohl die Wolke am rechten Bildrand, in der ich zumindest ein Gesicht zu erkennen glaube - extrem subtil, aber dennoch da.
Das Cover trifft, in meinen Augen, das Thema exzellent und ist eines meiner Liebsten aus dem Hause Chaosium…
Ist die gelungene Außengestaltung aber schon nicht selbstverständlich, so ist die Innengestaltung geradezu hervorzuheben. Wo sonst bei Chaosium das zeichnerische Niveau häufig eher zu bestreiten ist, weiß Taint of Madness richtig zu gefallen. Sind die meisten kleinen Bilder noch auf gewohntem, vielleicht etwas überdurchschnittlichen Chaosium-Niveau, so können die recht zahlreichen, ganzseitigen Bilder voll und ganz überzeugen. Jene, die Portraits zeigen, verleihen ihnen einen geradezu wundervoll-wahnsinnigen Touch, vor allem die Krankenschwester auf S. 37 ist ein absoluter Favorit von mir. Die anderen Bilder zeigen Szenen um und in Irrenanstalten und auch hier weiß jedes einzelne zu gefallen.
Dazu kommen noch nette Gimmicks wie illustratorisch echt gut gelungene Rohrschachtestbilder am Ende des Buches, die man eigentlich nur cthuloid deuten kann - rein optisch gewinnt das Buch also schon mal viel Sympathie.
Schauen wir nun mal, wie es um den Inhalt bestellt ist…

Das Kapitel gliedert sich in sechs große Kapitel sowie eine Reihe Anhänge, und es bietet sich - für den Leser wie auch für den Rezensenten - an, dieser Reihenfolge einfach mal zu folgen.
Kapitel 1 heißt "Lunacy" und stellt bereits einen guten Rundumschlag an.
"Ein kurzer geschichtlicher Abriss über die Reaktionen der geistig gesunden Leute wegen der Wahnsinnigen" wird versprochen, und den erhält man auch.
Neben einer guten Übersicht über die prägenden Psychologen der Geschichte stellt vor allem der Abschnitt über Behandlungsmethoden und ähnliche Vorgehen einen der Schätze des Buches dar - hier findet man einige Sachen die einen mehr als einmal darüber nachdenken lassen, wer damals die größeren Irren waren: die Insassen oder die Betreiber der Sanatorien.
Bereits ein sehr interessantes Kapitel, welches sowohl durch Fakten wie auch durch interessante Schreibweise zu fesseln zu weiß…

Kapitel 2 heißt "Sanity, Insanity and Roleplaying the Investigator" und wieder ist der Name Programm. Neben einigen eher nebensächlichen Hinweisen, wie man den Wahnsinn seines Charakters, eines der Kernelemente von Call of Cthulhu, gut darstellen kann, findet der geneigte SL hier vor allem einen riesigen Fundus an Geisteskrankheiten, gegen den die schon beachtliche Auswahl des Grundbuches fast schon richtig dünn wirkt - auch was die Infos betrifft, denn jeder Krankheit wird auch weit mehr Platz eingeräumt als es das Grundregelwerk tut.
Wer also gerne Geisteskrankheiten einsetzt (und davon will ich bei Interessenten des Buches doch mal ausgehen), der wird hier mehr als fündig…

"The Psychiatric Interview" ist das dritte Kapitel und wieder eines der Faszinierendsten des Buches. Worauf achtet ein Psychiater bei den berühmten Gesprächen auf der Couch? Woran erkennt man welche Geisteskrankheiten? Was war damals ein Einweisungsgrund und welche Diagnosen ergeben sich woraus? Alles Fragen, die hier beantwortet werden…
Und zur Unterstützung erhält der geneigte SL dann noch ein s.g. "Interview Worksheet", welches ebenfalls die relevanten Punkte Stück für Stück abklappert und so einem SL das Ausspielen eines solchen Interviews sehr erleichtern kann…

Das vierte Kapitel, "Insanity, Society and the Law", ist vermutlich für die Wenigstens von ähnlichem Interesse, aber informativ ist es schon, denn Fragen wie etwa nach der gesetzlichen Schuldfähigkeit können ja auch für Spieler mal von Interesse sein - jedoch ist dieses Kapitel mehr als jedes andere natürlich auch Amerikaspezifisch, daher auch nur etwas eingeschränkt zu gebrauchen…

"Asylums" ist hingegen wieder ein Must Read. Das fünfte Kapitel bietet - neben ein paar ausgesprochen sinnlosen Mechanismen, die das Überleben in und Genesen durch eine Irrenanstalt regeln sollen, einen schönen Ausblick auf einen Haufen amerikanischer und eine Auswahl anderer Sanatorien, dazu noch generelle Informationen über das Leben in einem solchen. Sehr informativ und, da dies ja auch kein allzu unwahrscheinlicher Ort ist, an dem ein Cthulhu-Charakter mal landen kann, sehr nützlich.

Kapitel 6, "Bethlem, Arkham, Bellevue" ist dann das Szenarienkapitel und auch hier wurde viel Wert auf eine generelle Verwendbarkeit gelegt. Eigentlich ist jedes der drei Szenarien mehr eine extrem detaillierte Schilderung von jeweils einer der kapitelnamensgebenden Anstalten, angesiedelt in jeweils einer der drei großen Epochen des Spiels (1890, 1920, "Now"), angereichert mit einigen Plotfäden.
Dadurch werden sie eigentlich recht gut einsetzbar. Zur Qualität kann ich hingegen nicht so viel sagen, da sie zwar beim Lesen keinen schlechten Eindruck machten, aber ich nicht zu einem Spieltest kam und daher einfach die Praxis fehlt, sie zu bewehrten. Aber sie sind auch mehr ein Anhängsel zu den obigen Informationen als ein Hauptkaufgrund.

Darauf folgen dann noch verschiedene Anhänge, um das Leben mit dem Buch weiter zu vereinfachen.
"Appendix I" bietet neben den oben schon erwähnten Rohrschachbildern und einer Urkunde (dem "Certificate of Insanity" des Commonwealth of Massachusetts) noch veränderte gS-Heilraten sowie einige regeltechnische Fakten zu den Anstalten aus "Bethlem, Arkham, Bellevue" und macht so seinem Namen alle Ehre.
Darauf folgt dann noch ein vier Seiten umfassender Glossar mit Fachausdrücken, ebenfalls recht nett, sowie eine zweiseitige Bibliografie mit den Quellen der Autoren, was auch auf den Korrektheitsgrad des Bandes hindeutet.
Abgerundet wird das Buch dann noch von einem praktischen Index, auf dem - auch keine Selbstverständlichkeit - auch tatsächlich mal alles nötige zu stehen scheint.

Abschließend kann die Beurteilung nur positiv ausfallen.
Wer an einem Buch zum Thema generell Gefallen finden kann, der ist mit Taint of Madness in jedem Fall gut bedient, wer eher zögert, der kann durch das Buch vielleicht sogar gerade Interesse an diesem lovecraftschen Thema bekommen.
Mit Sicherheit von all denen, die ich gesehen habe, eines der besten Bücher von Chaosium.


Name: Taint of Madness
Verlag: Chaosium
Sprache: Englisch
Autoren: Michael Tice, Shannon Appel, Eric Rowe
Empf. VK.: 18,95 Dollar
Seiten: 120{jcomments on}