Niemandsland - Grabenkrieg & Heimatfront

Niemandsland – Grabenkrieg und Heimatfront enthält einen umfangreichen Quellenband und drei Abenteuerszenarien und beschreibt die Vorgeschichte der klassischen Ära der 1920er: Den 1. Weltkrieg.
vom Backcover von Niemandsland – Grabenkrieg & Heimatfront

Recht lang war es ein heiß diskutiertes Thema: Sollte man die Zeit des ersten Weltkriegs als Cthulhu-Quellenband aufbereiten? Einerseits liegt es einfach nahe, bildet der Krieg doch den Charakterhintergrund für einen Großteil der Charaktere in den 1920ern, da er direkt oder indirekt doch fast jeden betroffen hat. Andererseits sind beide Weltkriege eher heikle Themen und sich dem anzunehmen würde definitiv eine Gradwanderung sein.
Doch letztlich hat man sich bei Pegasus dazu entschieden, das Themenfeld tatsächlich zu bearbeiten und herausgekommen ist, man ahnt es, das vorliegende Quellenbuch.

Wuchtig ist es geworden, wie man schnell feststellen kann. 260 Seiten ist ein stolzes Kampfgewicht (zum Vergleich: „Cthulhu Now“ hat 244 Seiten), was natürlich auch neugierig macht. Ebenso das Cover. Zwar haben wir uns DORP-intern gerne vorgestellt, wie man beim Verfassungsschutz schon mal vorschnell mit den Füßen scharren würde ob dieses Einbands, den Manfred Escher in gewohnter handwerklicher Qualität mit Frakturschrift, Ritterkreuz und subtiler schwarz-rot-goldener Farbgebung versehen hat. Doch das Endprodukt ist einfach stimmungsvoll geworden und passt wunderbar zum bearbeiteten Thema.
Die innere Gestaltung ist von gewohnter Qualität und eigentlich ohne Aussetzer. Viel Text pro Seite, aber keine Textwüsten, angenehmer Satz, weitestgehend scharfe, zeitgenössische Bilder, aufwendige Karten, tolle Handouts und dergleichen mehr erfreuen das Auge des Betrachters. Auch durchaus lobenswert erwähnen will ich den doppelseitigen, optisch wunderbar an das Setting angepassten, neuen Charakterbogen, der ebenfalls Stimmung verbreitet.
Die einzigen beiden Kritikpunkte, die das Buch als Nutzgegenstand betreffen, wären das Fehlen von Index und Lesebändchen. Beides ist nicht zwingend erforderlich, aber bei einem Buch dieses Kalibers wäre beides durchaus eine angenehme Bereicherung gewesen.

Inhaltlich ist das von Heiko Gill redaktionell geleitete Werk zweigeteilt. Ungefähr die erste Hälfte wird von einem umfassenden Quellenteil eingenommen, die zweite Hälfte von drei Abenteuern. Darin gleicht das Buch dem jüngst hier erst besprochenen „Dementophobia“, das unter gleicher Leitung entstanden ist. Da mir die Aufteilung bei dem Buch zum Thema Wahnsinn durchaus gut gefallen hat, bin ich daher auch guter Dinge an den vorliegenden Band gegangen.

Ich sollte an diesem Punkt, einfach zur Einordnung meiner Meinung, hinzufügen, dass der erste Weltkrieg eigentlich so absolut nicht mein Thema ist. Nicht, dass ich mit ihm ein Problem hätte oder so, aber bislang ging das Thema eigentlich über das notwendige Maß an Schulbildung hinaus an mir vorbei. Das heißt einerseits, dass mir eventuelle faktische Fehler vermutlich einfach nicht aufgefallen sind und andererseits jedwedes Lob für die interessante Darbietung des Themas, das folgen wird, durchaus hoch gewertet werden kann, da „Niemandsland“ bei mir nicht von sich aus auf fruchtbaren Boden gefallen ist.

Der Quellenteil beginnt dann auch direkt sehr geschichtlich. Ist zu erwarten, zeigt aber mal wieder, warum die Spielerschaft des „Cthulhu“-Rollenspiels im Schnitt einfach etwas älter ist als die des generischen Fantasy-Systems, denn bisweilen gibt sich das Buch hier schon regelrecht wie ein Geschichtsbuch.
Zu loben ist aber, dass die notwendigen Fakten hier sehr knackig und komprimiert präsentiert werden, gerade im rechten Maß, um ein noch immer auf Spaß ausgelegtes Spiel mit einem ordentlichen Fundament zu versehen. Zeitgenössische Texte, Soldatenlieder und eher obskure Fakten lockern den Sachtext dabei erfolgreich auf und vermitteln einem ein gutes Gefühl für die Zeit. Der Text, der sowohl den Krieg im allgemeinen, die Kämpfe im Westen und Osten, die umkämpften Kolonien und die Heimatfront umreißt, geleitet einen von den Anfängen bis zum Ende des ersten Weltkrieges und seinen Folgen und nimmt damit auch direkt mal etwas mehr als ein Fünftel des Bandes ein.
Wirklich ein Rollenspieltext ist er dabei nur an wenigen Stellen, etwa wenn Werte zu historischen Persönlichkeiten gegeben werden (Manfred Freiherr von Richthofen hat eine gS von 50, lernen wir etwa). Damit könnte das Buch sogar abseits des Spiels Interessenten finden.

Aber es ist dabei auch kein Versäumnis, dass Werte und Regeln in diesem ersten Teil ausgespart werden, nachfolgende Abschnitte bieten dafür das nötige Handwerkszeug dann in gebündelter Form dar. „Charaktere im Krieg“ etwa bietet, nun, genau das, was man bei dem Namen erwartet.
Einige neue Fertigkeiten (Artillerie, Kriegshandwerk, Schwere Waffen und Sprengen), Truppentypen (will sagen: Berufe) und auch noch mal viel Hintergrund zur Ausgestaltung seiner Spielfigur werden hier präsentiert. Das Kapitel ist inhaltlich sehr gut und auch die Truppentypen sind sinnvoll ausgestaltet worden, und wenn auch vermutlich einmal mehr nicht ganz ausbalanciert, so doch den aberdutzenden Berufen aus den Grundregeln in diesem Punkt spürbar überlegen.

„Das Leben an der Front“ wird in einem kurzen, aber sehr schön aufgemachten Abschnitt beschrieben und ausgestaltet, bevor „Das Handwerkszeug des Todes“ ebenfalls in einem sprechend benannten Kapitel dargelegt wird. Etwas gespalten hingegen ist mein Verhältnis zum Abschnitt „Die Regeln des Krieges“.
Einerseits finde ich es durchaus gut, dass hier auch ein ordentliches Maß an Mechanismen mitgegeben wurde, um die doch eher besonderen Spielsituationen, die der Weltkrieg mit sich bringt, abzudecken. Leider sind diese Mechanismen aber alle recht komplex und aufwendig. Ich will nicht mal sagen, sie seien schlecht, aber ähnlich wie bei den Verfolgungsjagdregeln der neuen Grundbucheditionen kommt es mir vor, als habe man hier das Pferd teils etwas von der falschen Seite aufgezäumt. Das Cthulhu-Regelwerk ist einfach gehalten und versucht seine Probleme in der Regel recht unkompliziert zu lösen. Ob die hier vorgestellten Systeme nun wirklich für Stimmung am Spieltisch sorgen können, müsste man langfristiger in der Praxis austesten; überzeugen konnten sie mich jedenfalls nicht wirklich.

Lob zum Schluss wil lich dem ersten Teil des Buches dann noch mal für den „Das Grauen des Krieges – am Spieltisch?“-Essay zukommen lassen. Der rundet den Quellenteil ab und befasst sich eben mit der heiklen Frage, wie man das Setting im Rollenspiel präsentieren kann und sollte. Im Endeffekt wird hier versucht zu zeigen, wie man mit durchaus cinematischen Mitteln die Gräuel des Krieges nachhaltig inszenieren kann. Ein guter Ansatz, der mir sehr gefallen hat.

Und somit kommen wir zu den drei enthaltenen Abenteuern. Den Auftakt macht „Schwarzer Sand“, das in Deutschland und Deutsch-Südwestafrika im Sommer 1914 spielt und von Sebastian Weitkamp geschrieben wurde. Das Abenteuer leitet elegant zu dem ungewohnten Setting hin, indem der erste Teil in Deutschland noch gewohnte Situationen (Einführung ins Abenteuer durch einen Verwandten, Recherchearbeit etc.) bietet und der erste Weltkrieg dann auch erst über den Verlauf der Sitzung(en) hinweg ausbricht. Das hat mir sehr gut gefallen, ebenso die insgesamt sehr konkrete, im Detail aber flexible Struktur des Szenarios, das durch zwei weitestgehend unabhängige Handlungsfäden auch noch ziemlich komplex geraten ist.

Oliver Adam und Uwe Weingärtner haben sich zusammen getan, um „Ein Sommenachtsalptraum“ zu schreiben. Nein, der Rezensent hat sich da nicht vertippt, denn der Titel spielt auf die Somme-Schlacht 1916 an, die dem Szenario als Hintergrund dient. Dieses Mal stecken die Charaktere schon deutlich tiefer im Kriegsalltag drin, denn es verschlägt sie als frische Offiziere an einen bestimmten Frontabschnitt, in dem sich Desertationen, Zusammenbrüche und Selbstmorde massiv häufen. Das Abenteuer bietet einem viele Einblicke in den allgemeinen Kriegsalltag und viele der ganz weltlichen Schrecken des Krieges, führt aber letztlich weit zurück in die Geschichte, denn es sind die Auswirkungen eines von Templern vor Jahrhunderten gestoppten Rituals, die ihnen nun das Leben schwer machen. Alles eskaliert in einem wilden Finale, in dem die Spieler mit einem Panzer ins Niemandsland ausrücken, um zumindest dem widernatürlichen Grauen ein Ende zu machen.
Insgesamt sicherlich ein gelungenes und komplexes Abenteuer, das mich allerdings ganz persönlich eher kalt gelassen hat.

Etwas abgedrehter wird es dann abschließend in „Wir fahren gen Engeland“ von Ralf Sandfuchs, ein Name der Kennern ja durchaus schon angenehm ungewöhnliche Ideen verheißt. Ganz heimisch spielt das Szenario in Hamburg, im Juni 1917. Das Thema ist dem Band aber durchaus angemessen: Die Firma Luftschiffbau Schütte-Lanz plant den Bau eines ganz neues Luftschifftyps für die kaiserliche Marine. Doch schon der Bau wird von einer Reihe seltsamer Vorkommnisse begleitet, die sich nicht zuletzt darin erklären, dass die Pläne der ungarischen Konstrukteure nicht alleine auf weltlichen Mitteln beruhen.
Das Abenteuer ist einerseits etwas abgehobener (kein Wortspiel beabsichtigt) als die anderen beiden Abenteuer, andererseits aber dennoch hervorragend in historische Fakten gebettet. Der Ablauf ist klar, den Spielern wird viel geboten; kurzum: ein rundum gelunges Abenteuer.

Allen drei Szenarien ist, abseits der schönen Handouts, noch gemein, dass sie wieder einmal mit vorbildlicher Struktur dargeboten werden. Das heißt, zu Beginn gibt es eine gründliche Zusammenfassung, damit man als Spielleiter weiß, was einen erwartet, und jedes Szenario kommt mit einem informativen und durchaus verwertbaren Spieltestbericht daher. Sehr löblich.
Insgesamt haben mir die drei Abenteuer aus „Dementophobia“ zwar ob ihrer etwas mutigeren Formen etwas besser gefallen, aber auch „Niemandsland“ bietet einem durchaus wieder viel Spielspaß für sein Geld und vor allem „Schwarzer Sand“ und „Wir fahren gen Engeland“ machen auch mir Lust auf‘s Spielen.

Somit kann ich insgesamt durchaus sagen, dass man bei Pegasus mittlerweile vermutlich wirklich das optimale Mischungsverhältnis von Quellen- und Abenteuerteil für die Bände gefunden hat. Anders als bei ganz frühen Büchern (wie etwa „Wales“), bei denen der Quellenteil einfach zu kurz war, oder den reinen Quellenbüchern (wie dem „Necronomicon“) ist die Version mit umfangreichem Quellenteil und zahlreichen Abenteuern definitiv sehr gut geraten.
Doch auch inhaltlich hat mich „Niemandsland“ in weiten Teilen sehr angesprochen. Das Thema „erster Weltkrieg“ wird tatsächlich in einer Form präsentiert, bei der ich einfach sagen muss „Ja, da könnte ich mir vorstellen, mit zu spielen“. Fakten und Fiktion werden gut vermischt und präsentiert, das Thema Weltkrieg selbst mit der nötigen Pietät behandelt und der Spielleiter mit genug Inspiration ausgestattet. Einzig der Regelteil hat mich nicht überzeugen können, der aber nimmt auf die 260 Seiten gerechnet auch nur einen verschwindend geringen Teil ein. 260 Seiten, die anno 2008 übrigens mit 29,95 Euro auch mit einem fairen Preis versehen worden sind.

„Niemandsland – Grabenkrieg und Heimatfront“ ist mehr als nur ein Quellenbuch geworden, es ist schon ein eigenständiges Setting. Doch jeden, den das Thema interessiert – als Zeit der Kampagne, für die Vorgeschichte seiner Charaktere oder auch aus fachlichem Interesse heraus – sollte der Weg durchaus zum Händler seines Vertrauens führen.
Das Buch ist natürlich sehr auf ein (großes) Themenfeld spezialisiert, doch innerhalb dieser Grenzen kann es auf nahezu der ganzen Linie punkten.


Name: Niemandsland – Grabenkrieg & Heimatfront
Verlag: Pegasus Press
Sprache: Deutsch
Autoren: Heiko Gill (Redaktion) uva. {jcomments on}
Empf. VK.: 29,95 Euro
Seiten: 260