London - Im Nebel der Themse

Im ausführlichen Quellenteil dieser Originalausgabe wurd London, seinerzeit größte Stadt der Welt und Schmelztigel der Kulturen, ausführlich vorgestellt. [...]
Enthalten sind außerdem zwei neue Abenteuer, die sowohl die 1890er als auch die 1920er abdecken und jeder Spielgruppe erlauben, direkt das cthuloide Grauen auch in der Stadt an der Themse zu erleben.

vom Backcover von London – Im Nebel der Themse

Nicht zuletzt weil der vorliegende Band endlich auch einmal die „Gaslicht“-Epoche des Cthulhu-Rollenspiels, also die 1890er, behandeln sollte, waren viele Fans sehr gespannt auf das Erscheinen von „London – Im Nebel der Themse“ (fortan als „London“ geführt).
Wer nun also uninformiert einfach zum Händler seines Vertrauens eilte um das Buch abzugreifen, sollte zunächst einmal eine Überraschung erleben: „London“ kommt im Hardcover.
Der 233 Seiten dicke Band ist auf gleiche Art und Weise matt eingeschlagen wie es auch das neue Grundregelwerk in Form von Spieler- und Spielleiterhandbuch war; auch die umgebende Collage geht in die gleiche Richtung. Diesmal vornehmlich blau, ist auch diesmal wieder eine wundervolle Vereinigung von Foliantenfaksimile und überlagernder Motive gelungen; „London“ ist einfach ein schönes Buch.
Im Inneren wird man zwar alsbald das fehlen der bisher für Hardcover eher typischen Lesebändchen bedauern, dafür aber mit Freude feststellen, dass die visuelle Gestaltung der Regelneuauflage beibehalten wurde. Also rundum verbrannte Seitenränder, angereichert mit der gewohnten Packung voller historischer Fotos, schön eingepasster optischer Designelemente, authentisch aufgemachter Handouts bei den Abenteuern und einer farbigen Stadtkarte im Einband. Sehr vorbildlich, so muss es sein! Und wenn auch das passend zur Karte abgedruckte Straßenverzeichnis Londons, dessen ursprüngliche 44 Seiten hier auf sechs Seiten fast bis in die Unlesbarkeit verkleinert wurden, etwas aus dem Rahmen fällt, kann ich mich nur wiederholen: „London“ ist einfach ein schönes Buch.

Auch ist es mehr „Quelleband“ als man das bisher in der Regel gewohnt war. Beschaut man sich beispielsweise „Kleine Völker“ oder „Um Ulm Herum“ einmal, so steht dort ein verhältnismäßig winziger Quellenteil zwei richtig großen Abenteuern gegenüber. In „London“ stimmt das Verhältnis mehr mit dem Etikett überein und auf 133 Seiten Quellenteil kommen „nur“ 69 Seiten Abenteuer.

Der Quellenteil gliedert sich in fünf große Kapitel. „Zur Einführung“ fängt geschichtlich vor etwas 50 Millionen Jahren an, berichtet aber schwerpunktmäßig einfach groß über dien 1890er und 1920er in der Metropole. Das Kapitel hält, was der Name verspricht und bietet auf seinen wenigen Seiten bereits erstaunlich viele Einblicke.

„Streifzüge durch London“, das zweite Kapitel, ist dagegen sehr lang. Nach einer ersten Beschreibung der Stadtteile wie Kesington oder Notting Hill sowie allerlei Sehenswürdigkeiten folgen detailliertere Unterabschnitte, etwa über die Parks der Stadt, über das unterirdische London bis hin zu allerlei schauerhaften Orten.

Schon auf Seite 64 angelangt, wird nun das „Leben in London“ thematisiert. Einige Dinge, etwa die detaillierten Regelmechanismen zur Modifikation von Fertigkeitswürfen bei unterschiedlich ausgeprägten Nebelstärken, erscheinen mir etwas übertrieben, aber gerade Abschnitte wie die Beschreibung des Londoner Alltags gleichen das tausendfach aus. Hier wird das vermittelt, was Spielleiter am nötigsten brauchen: Lebensgefühl. Einige Dinge dürften schwer umzusetzen sein – etwa der durchaus treffend beschriebene Cockney-Akzent, denn wer spielt schon auf Englisch?
Dafür gibt es auch ein paar Worte für den deutschen Sprachgebrauch, etwa die „Erbsensuppe“ für dichten Nebel (wenn dort auch ein geradezu königlicher Tippfehler auf S.71 eine „Erbensuppe“ daraus gemacht hat; ich mag solche Stilblüten), aber ob sich das „Englisch“ anfühlt? Naja...
Dennoch, wie schon gesagt, ein starkes Kapitel, welches wohl jedem SL einen Gewinn einbringen dürfte. So werden etwa auch bekannte historische Kriminalfälle als Beispiele angegeben und ein Buch, das Dr. Fu-Manchu einen Textkasten widmet, hat ohnehin meine volle Sympathie.

Rund 50 Seiten später beginnt dann also Kapitel 4, „Als Spielercharakter in London“. Nein, keine alternative Charaktererschaffung für Londoner, sondern vielmehr eine provisorische Beschäftigung mit allem, was Spieler und ihre Charaktere halt so gerne treiben.
Typische Londoner Berufe („Bohemien“ hat es mir da angetan) sind die eine Hälfte, typische Orte der „Informationsbeschaffung“ die andere. Nicht viel dazu zu sagen, außer: man kriegt was draufsteht, und das ist gut.

Das fünfte und somit letzte Kapitel nennt sich „Okkulstismus und Mythos in London – Von dunklen Gesellschaften“ und macht damit schnell klar, worum es geht. Nacheinander werden „Die Theosophische Gesellschaft in London“, „Okkulte Gesellschaften“, „Spiritistische Vereinigungen“, „WIssenschaftliche Vereinigungen“, „Geheime Kulte in London“ sowie die „Clavea People“ beschrieben.
Einerseits fand ich es etwas schade und irreleitend, dass hier so sehr auf die Kulte eingegangen wird und so rein gar nicht auf andere Varianten okkulter Vorgänge. Dann wiederum muss man aber auch anerkennen, dass dies bereits zuvor in den Regionalbeschreibungen ganz gut abgedeckt wurde, wodurch diese Kritik etwas verblasst.

Kommen wir also zu den Szenarien. „Nebel der Wahrheit“ kommt von Jeans Peter Kleinau in Zusammenarbeit mit Heiko Gill und spielt im Jahre 1888 in London. Und worum geht es in diesem Jahr in dieser Stadt immer: richtig, um Jack the Ripper.
Was hier aufgesponnen wird ist eine an sich ganz gut machte Verquickung von historischen Fakten und Fiktion, die Vereinigung von Freimaurer-Mythen, Ripper-Fakten und Ripper-Mythen mit dem Cthulhu-Mythos.
Herausgekommen ist ein generell spannendes und gutes Detektivabenteuer, welches allerdings in meinen Augen so seine Haken hat. Die Ripper-Thematik ist bekannt; spätestens seit „From Hell“ (Comic wie Film) und Patricia Cornwells „Wer war Jack the Ripper?“ sogar sehr bekannt. Daher ist das Thema, obschon weiterhin aufgrund seiner nicht vorhandenen Lösung, etwas abgegriffen. Ebenso ist es vermutlich etwas ungünstig, dass hier Zeitpunkte und Opfer des Rippers von der Historie losgelöst und variiert wurden; wer sich mit dem Thema nun wirklich auskennt, wird so schnell aus jeglicher Illusion gerissen.
Ist das aber noch eher eine Haare spaltende Kritik, so ist der wiederholte Einsatz von Sir Arthur Conan Doyle als Deus Ex Machina unter dem durchaus selbstironischen Motto „Zaunpfahl in Scharlachrot“ recht schrecklich, denn gerade in detektivischen Abenteuern habe ich sehr die Erfahrung gemacht, dass Spieler es nicht schätzen, wenn mysteriöse NSCs immer als Retter des Tages aus Sackgassen helfen.
Daher leider ein eher durchschnittliches Szenario; gut, aber man hätte mehr daraus machen können. Ein dickes Lob gibt es dagegen noch für den Spielbericht – hier schildert der Autor, wie das Testspiel des Abenteuers verlaufen ist. Das gefällt gut, sollte es öfter geben.

Das zweite Abenteuer des Bandes kommt einmal mehr vom Serientäter Wolfgang Schiemichen und führt unsere Spieler diesmal wieder in das Jahr 1920. Das Szenario „Elwoods Kinder“ selbst ist eigentlich recht simpel, dafür aber erstaunlich konfus geschrieben. Der Autor begründete dies im offiziellen Forum damit, dass er auf Vorschläge seitens der Spielerschaft reagiert habe. Wie schon in seinem letzten Abenteuer bieten Schiemichens ersten Abschnitte wieder „Tipps zur Szene“, allerdings hört er in der Mitte des Abenteuers einfach damit auf. Gerade nach seinem von der Struktur her so vorbildlichen Beitrag im „Terror Britannicus“ bin ich davon ziemlich enttäuscht.
Die Idee des Abenteuers, dass etwas Gefährliches inmitten der Themse erwacht, finde ich dagegen recht gut. Angefangen von schaurigen Edgar Wallace-Filmen bin hin zu guten Geistergeschichten birgt diese Idee ein recht hohen inspiratives Potential und ist hier schön umgesetzt.
Zu bemängeln ist dagegen der Auftakt: hier wird den Spielern ein gewisses Verhalten unterstellt und sogar klar gesagt, dass, wenn sie nicht reagieren wie vorgesehen, London eben langsam untergehen wird. Klasse, Daumen hoch, kann ich nur sagen ... hätte man nicht wenigstens das eine oder andere Sicherheitsnetz einbauen können?

Bleiben noch die Anhänge. Da gibt es eine enorm genaue Zeitleiste, Hinweise zum londoner Kalenderjahr, wichtige Adressen in der Stadt und eine recht umfangreiche Preisliste, gefolgt vom anfangs schon ob seiner Größe (bzw. deren Fehlen) kritisierte Straßenverzeichnis. Nützlich.

Insgesamt hat mir der London-Band durchaus gut gefallen. Der Quellenteil ist vorbildlich und einfach eine Referenz, mit der sich nachfolgende Städtebeschreibungen, sollte da noch mal eine kommen, messen müssen. Die Szenarien sind da eine eher zweischneidige Sache, sind aber auch nicht verkehrt. Gesetz dem Fall man kann den Deus Ex Machine-Stolperstein überspielen, so wird man mit „Nebel der Wahrheit“ sicherlich ebensoviel Spaß haben können wir mit „Elwoods Kinder“, wenn die Spieler dort den ersten Köder fressen. Somit ist der Band sicherlich gut geworden, aber die kleineren Mängel bei den Abenteuern und der mit 29,95 Euro auch nicht so ganz günstigen Preis stehen einem bedenkenlosen „Sehr gut“ leider im Wege.
Dennoch ist es wieder ganz klar: wer Cthulhu spielt, auf London steht oder gar einfach mal wieder „Gaslight“-Futter braucht, der muss hier einfach zugreifen. Alle anderen blättern vorher eben mal rein...


Name: London – Im Nebel der Themse {jcomments on}
Verlag: Pegasus Press
Sprache: Deutsch
Autoren: Hintegrund: Treder mit Aniolowski, Bogdan, Kleinau, Nagel, Sandfuchs, Steines, Velten; Abenteuer: Kleinau, Gill und Schiemichen
Empf. VK.: 29,95 Euro
Seiten: 233 Seiten