Horror im Orient-Express Bd. 4 - Über den Balkan nach Konstantinopel

Horror im Orient-Express Bd. 4 – Über den Balkan nach Konstantinopel ist der finale Teil der Kampagne.
vom Backcover von Horror im Orient-Express Bd. 4 – Über den Balkan nach Konstantinopel

Ein letztes Mal liegt einer vor mir – ein neuer Band der großen „Horror im Orient Express“-Kampagne für das Cthulhu-Rollenspiel. Ein imposantes Werk ist es geworden. Der vierte Band ist mit 192 Seiten noch mal einen Zacken dicker geraten als der schon dicke, dritte Teil der Reihe und trumpft ansonsten mit all den Tugenden auf, die den „Orient Express“ auszeichnen.
Also zunächst mal ein tolles Umschlagsdesign auf ungewohnt mattem Material, begleitet von hochglänzenden, sehr dicken Druckseiten im Inneren. Die Innengestaltung ist zudem phantastisch. Ein (hoffen wir nur vorerst und nicht endgültig) letztes Mal durfte sich hier Konstantyn Debus austoben und so ziemlich alles, was mich in der Regel an der Optik von Pegasus-Produkten stört, konnte hier vermieden werden. Einmal mehr gibt es nicht ein pixeliges oder unscharfes Bild im ganzen Band, der Look ist düster und, obschon Konstantyn ebenfalls auf Fotografien setzt, wirkt das ganze Buch weitaus „illustrieter“. Wo normale Pegasus-Produkte eher den Charme eines Geschichtsbuches haben, da punktet „Über den Balkan nach Konstantinopel“ mit einem bombastischen Look, dem ich auch in seiner nun vierten Inkarnation nur eine Kritik entgegenbringen kann: Wieder gibt es keine Seitenzahlen, nur analoge Uhrzeiten. Das mag stimmungsvoll sein, doch gut nutzbar ist es sicher nicht.

Was man außerdem noch erwähnen sollte, ist das Vorhandensein einer Box. Nachdem die ersten drei Bände separat erschienen sind, liegt Band 4 nun eine große Pappbox bei, durch die der geneigte Sammler nun wieder Ordnung in seinem Regal schaffen und die Beilagen der vorigen Bände sicher aufbewahren kann.
Daraus resultiert aber auch ein ziemlich happiger Preis. Gegenüber Band 3 sind (bei weniger als 20 zusätzlichen Seiten) zehn Euro aufgeschlagen worden; ob die Pappkiste einen derartigen Aufpreis rechtfertigt, muss wohl jeder selber wissen. Mehr zu der Preisspanne aber auch noch im allgemeinen Fazit am Ende dieser Rezi.

Auch dieses Mal gliedert sich das Buch in zwei große Teile – Abenteuer und Regionalia. Fünf Abenteuer von stark abweichender Länge haben die Spieler mit Beginn dieses Buches noch vor sich. Leider bleibt vieles dabei in einem recht engen Korsett und eine Kritik, die man schon den Vorgängern an bestimmten Stellen hätte machen können, wird hier geradezu bildlich deutlich: Railroading.
Das hat zwar terminologisch noch nie so gut auf eine Kampagne gepasst, aber an einigen Stellen fand ich es schon zu dreist und vor allem plump umgesetzt. Beispiel? Am Ende des Konstantinopel-Abenteuers erkennen die Spieler, dass sie in einer sehr knappen Zeit eine sehr weite Strecke zurücklegen müssen. Dabei wird erwartet, dass sie wieder mit dem Orient Express fahren. Und wenn nicht?
Das Abenteuer rät: „Wenn die Charaktere ein Flugzeug finden sollten, stürzt es über Bulgarien ab und sie müssen notgedrungen mit dem Orient Express nach Westen fahren:“ Hä?
Solche Mauern sollten Kaufabenteuer eigentlich nicht aufweisen, wenn sie auch von einem guten Spielleiter sicherlich geschickt überspielt werden können.

Der Hintergrundteil ist in die Oberthemen „Balkan“ und „Türkei“ sowie in die Unterbereiche Jugoslawien und Bulgarien respektive Konstantinopel untergliedert und unterstützen somit direkt das, was in den Abenteuern an Locations bereist wird.
Das Ziel, mit der Kampagne auch gleich so etwas wie kleine Regionalbände zu Europa zu publizieren ist Pegasus hiermit jedenfalls abschließend gut gelungen und wer alle vier Bände zum „Express“ daheim hat, kann auch wunderbar eine Szenarien mit neuen Details füttern.

Der Abschluss der Kampagne erfolgt jedenfalls auf einem zum Vorgänger hin gleichbleibendem Niveau. Wo etwa „In Nyarlathoteps Schatten“ gegen Ende ganz mächtig die Mythos-Schraube ins Unsinnige dreht und mit anderen, ehr pulpigen Details Punkte einbüßt, macht der „Express“ da vieles besser.
Ja, auch hier gibt es zum Finale hin noch viel zu erleben, ja, auch hier wir der Mythos aktiv. Dennoch wirkt die ganze Kampagne weitsaus runder und reifer als besagter „Schatten“.
Wie schon seine Vorgänger, so fängt auch „Über den Balkan nach Konstantinopel“ den Flair der jeweiligen Länder gut ein und hilft einem so als Erzähler deutlich weiter. Denn der Flair ist es, der diese Kampagne einzigartig macht und selbst wenn es gegen Ende bisweilen sehr geradlinig wird, so entschädigt die Kampagne durch das Potential, regelrechte Bombast-Atmosphäre aufzubauen. Zwar bleiben wunderbare Schätze wie das „Mädchen im Schnee“ aus Band 2 oder die Traumlande-Sequenz in Zagreb in Band 3 vom vierten Band unerreicht; imposant ist das Finale aber zweifelsohne.

Die spannendere Frage, statt „Lohnt sich Band 4?“, sollte aber ohnehin die sein, ob sich die ganze Kampagne lohnt. Das ist nicht ganz einfach zu beantworten. Die Bände sehen erstklassig aus, wurden auch inhaltlich toll bearbeiten, bisweilen radikal ergänzt und insgesamt ist die Kampagne sicherlich eine der längsten, mir bekannten, kommerziellen Kampagnen überhaupt.
Der Plot ist anno 2006 erst einmal recht überholt, punktet aber durch abwechslungsreiche Details, frische Ideen und die tolle Grundprämisse. Denn der Orient Express ist ein tolles, kulturhistorisches Objekt, dem die Kampagne nur zu Ehren gereicht.

Warum also keine volle Kaufempfehlung? Nun, neben der Sache mit dem Auf-Schnienen-Problem an einzelnen Stellen, so ist vor allem noch der Preis zu nennen. Der ist, das vorweg, sicherlich fair. Für sein Geld bekommt man eine ganze Menge geboten, gerade auch was Handouts, Beilagen und Spielhilfen betrifft.
Doch nimmt man mal alle Kosten zusammen, so legt man für die Kampagne insgesamt 14,95+24,95+19,95+29,95=89,80 Euro auf den Tisch. Das ist eine stolze Summe, gleich welch tolle Verarbeitung einem eine Kampagne bietet.
Ich persönliche finde, dass das Maß hier durchaus im Schnitt stimmt. Man erhält eine tolle Kampagne mit spannenden Ideen und toller Atmosphäre, wenn auch etwas traditioneller Rahmenhandlung ist hervorragender Präsentation. Wer nun aber zu jenen gehört, deren Geld nicht immer auf hoher Kante liegt, die sollten vielleicht erst einmal langsam mit dem (preisgünstigen) ersten Teil anlesen und schauen, ob es ihnen genug zusagt.
Ich jedenfalls bin nach wie vor sehr angetan – anders als „In Nyarlathoteps Schatten“ halte ich „Horror im Orient Express“ auch anno 2006 noch für eine Kampagne, die man sich nicht entgehen lassen sollte.


Name: Horror im Orient-Express Bd. 4
OT: Horror on the Orient Express {jcomments on}
Verlag: Pegasus
Sprache: Deutsch
Autoren: Frank Heller (Redaktion und Konzeption), u.v.a.
Empf. VK.: 29,95 Euro
Seiten: speziell