Cthulhu Now - Grundregelwerk
In Cthulhu Now erleben die Spieler den Schrecken des Cthulhu-Rollenspiels in der Gegenwart.
vom Backcover von Cthulhu Now
Sehr, sehr lange habe ich auf das vorliegende Buch gehofft. Anders als mancher Purist habe ich nie diese grenzenlose Liebe zu den 1920ern empfunden, die man im Cthulhu-Umfeld häufiger findet. Horror in der Gegenwart war für mich immer konkreter, greifbarer, direkter – Cthulhu in der Gegenwart klang stets noch verlockender.
Nun ist endlich eine deutsche Ausgabe von „Cthulhu Now“ erschienen und schon auf den allerersten Blick wird klar, dass das Buch mit dem gleichnamigen Chaosium-Werk einzig den Titel gemein hat.
„Cthulhu Now“ ist als Hardcover erschienen und stolze 244 Seiten schwer. Das gute Papier, der starke Umschlag nebst guter Bindung und das praktische Lesebändchen erzeugen den gewohnten, aber gewohnt guten praktischen Gesamteindruck. Der Einband hebt sich deutlich von der bestehenden Reihe ab und obschon ich im Vorfeld viel daran gemeckert habe, muss ich zugeben, dass er im Druck doch sehr großartig aussieht. Das Cover, eine Mischung aus bekannter Cthulhu-Ansicht und der „Mystery“-haft aufgemachten Skyline von Frankfurt gibt direkt die Marschrichtung vor, nur das Logo sieht in seiner Kombination aus serifenloser Schrift und dem schnörkeligen Cthulhu-„Auge“ etwas komisch aus.
Doch das wahre Highlight ist die Innengestaltung. Ausnahmsweise hat man einmal den Zimmermann der normalen Reihe gegen einen echten Künstler ausgetauscht: Jens Weber hat das Buch gleichermaßen bebildert wie gesetzt und das Endergebnis sieht toll aus. Das Buch ist übersichtlich und gut zu navigieren, hat aber gleichzeitig die positiven Eigenschaften moderner Rollenspiel-Designs übernommen. Wie etwa auch bei „Engel“ merkt man einfach, dass hier die Optik mehr als nur Mittel zum Zweck ist und nicht nur ein Trägermedium für den Text, sondern bewusster Teil der Gestaltung des Spiels an sich. Wer in dem Buch blättert, den umfängt direkt eine dichte Atmosphäre und durch die Entscheidung zugunsten von Zeichnungen gegenüber Photos wird auch direkt eine klare Trennlinie zwischen Spiel und „echter, langweiliger Realität“ gezogen.
Ob nun 99er-Regelwerk, ob nun die zweibändige Neuauflage oder eben jetzt „Arcana Cthulhiana“ – öfters schon hat man bei Cthulhu Wert auf schöne Gestaltung gelegt, doch „Cthulhu Now“ lässt alle anderen meilenweit hinter sich. Ein wunderschönes Buch.
Schaut man dann ins Inhaltsverzeichnis, so wird schnell klar, dass das Buch mehr sein möchte als „nur“ eine Übertragung lovecraftscher Ideen auf die Moderne. Vielmehr stellt „Cthulhu Now“ wirklich ein eigenes Setting dar, in einem Maße, dass das Buch vermutlich auch WoD-oder „Kult“-Spielern durchaus von Nutzen sein dürfte. Aber dazu gegen Ende noch mehr.
Schon „Welt aus den Fugen“, der erste Abschnitt, ist dabei zu loben. Nicht nur wird gleich hier der Mythos aus dem modernen Blickwinkel betrachtet („Warum findet eigentlich keiner die Berge des Wahnsinns per Satelit?“ und so...), auch die spielerische Seite wird bedacht. Neben einigen generellen Tipps für ein stimmiges Spiel ist vor allem der „Nihilistisch angelegtes Cthulhu-Rollenspiel“-Abschnitt sehr wertvoll. Darin hat Holger Göttmann einmal herausgestellt, wie Cthulhu gemäß der „Spielbälle der Großen Alten“-Denkweise Lovecrafts eigentlich am Spieltisch funktionieren kann.
Auch Filmempfehlungen und nette Plotideen sind bereits hier zu finden, so dass man sofort Ideen für schöne Sitzungen haben sollte, kaum dass man das erste Kapitel angelesen hat.
Einige Kapitel in dem Buch sind dagegen eher regeltechnisch orientiert. „Fertigkeiten“ hält, was der Name verspricht, ebenso „Berufe der Moderne“. Etwas variantenreicher, aber im Kern ebenfalls eher „-spiel“ als „Rollen-“ ist der „Waffen, Ausrüstung, Fahrzeuge“-Abschnitt gegen Ende. Das ist nicht abwertend gemeint, aber große Überraschungen bleiben aus und insofern reicht es wohl auch, die Bereiche zu erwähnen.
Anders sieht es mit „Gemeinschaften des Zwielichts“, der konspirative Teil des Buches. Geheimbünde und Sekten in der Moderne sind hier genauso Thema wie kultische Origanisationen, allen voran „New World Industries“. NWI ist ein für Pegasus‘ Cthulhu wohl komplett neues Konzept und verbreitete für mich einen Hauch von „Delta Green“ (oder schlicht 90er-Verschwörungs-Charme), denn es ist ein Meta-Kult. Es ist der große, greifbare Widersacher für potentiell eine jede Now-Kampagne und exzellt dazu geeignet, ganze Abenteuerketten aufzuziehen. Ob man das jetzt eher als Akte-X-Konsortium oder „Wolfram & Hart“ aufzieht muss man selber wissen, die Möglichkeiten sind jedenfalls schier endlos.
Das ist aber auch so eine jener Ideen, die mir das neue „Now“ so sympathisch gemacht haben; Meta-Kulte – das ist einfach neu und gut.
Die volle Offensive der Möglichkeiten durch die Moderne kommt aber in diversen Kapiteln auf den Leser zu, die mehr oder weniger einfach Fakten sammeln. „Psychische Störungen“, „Moderne Medien“, „Kriminalität und Drogen“, „Polizeiliche Ermittlungsmethoden“ und „Gerichtsmedizin“ sind insgesamt ein riesiger Wissensfundus für jeden Rollenspieler in einem modernen Setting.
Was sind typische Neurosen? Wie stehen EVP-Phänomene gegenüber dem Mythos? Was meint der Junkie wenn er sagt, er sei auf „Spack“ und was tut man bei Überdosen? Wie kommt man an Durchsuchungsbefehle? Woran erkenne ich einen Tod durch erfrieren und wie läuft der ab?
Die Kapitel stecken voller Fakten, bisweilen vielleicht etwas trocken geschrieben, die einen als findigen SL aber doch um diverse Abenteuerkonzepte reicher machen. Nicht nur wegen der Kurzideen, die immer mal wieder nützlich eingefügt wurden, sondern durchaus auch direkt durch die „echten“ Informationen. Wie gesagt, einige Abschnitte lesen sind recht trocken, was aber bisweilen an der Materie liegt. Schreckliche Erinnerungen an das mündliche Abitur flammten bei mir auf, als ich etwa im „Gerichtsmedizin“-Teil von den CDE-, P-, Lu-, K-, Fy-, Di-, Xg- und AB0-Blutgruppensystemen las oder mit die Sache mit der DNA noch mal von vorne an erläutert wurde, aber andere Details werden sich am Spieltisch sicher auszahlen. Denn wo Fakten nicht zum Selbstzweck werden, schaffen sie häufig ein starkes Gefühl von Glaubwürdigkeit.
Damit bleiben uns nur noch die beiden Abenteuer in dem Band. „Die Schreckliche Welt des Paul Wegner“ ist schräg geworden. Es schlägt für mich in die selbe Kerbe wie „Kerkerwelten“ (mittlerweile im Grundregelwerk angekommen) oder diverse CW-Sonderband-Szenarien, bedient sich also frei der lovecraftschen Ideen und baut sich etwas ganz eigenes Fernab des Mythos.
„Die Schreckliche Welt...“ ist dabei eher „modern fantasy“ zu nennen und wurde vom Stil her öfters mit „Unknown Armies“ verglichen. Das mag stimmen, aber unter‘m Strich ist es erst einmal ein unverbrauchtes, spannendes Szenario mit toller Bedeutungsebene und viel Raum zum Weiterspinnen.
Wer es eher klassisch mag, der bleibt bei „Eisige Tiefen“. Eine Insel nahe der Antarktis, Tiefe Wesen und Atombombentests sind zwar ebenfalls ein Cocktail, wie es ihn bislang noch nicht gab, aber andererseits auch nichts weltbewegend Neues. Es ist ein nettes Abenteuer, recht flott und sicher spaßig zu spielen, aber lange nicht so flippig wie „Die Schreckliche Welt des Paul Wegner“.
Wer das Buch kauft, findet zudem noch ein „Cthulhu für Einsteiger“ eingelegt. Damit kann man theoretisch „Cthulhu Now“ sogar ohne Grundregelwerk spielen, wenn das Buch auch an und für sich von Spieler- und Spielleiterhandbuch als Grundlage ausgeht.
Aber ich finde es löblich, dass man bei Pegasus hier soweit gedacht hat und den Markt mit der Gratisbeilage noch etwas öffnet.
Ingesamt hat sich das Warten hier wirklich mal gelohnt. „Cthulhu Now“ hat mich mehr begeistern können als so ziemlich jedes andere Produkt der Reihe in den letzten Jahren. Es stimmt einfach alles. Der Bezug zum Spieltisch wird dauernd gesucht, dennoch werden viele Fakten geboten; alles zusammen wurde dann noch schön illustriert und sehr kunstvoll gelayoutet. Da kann ich nur sagen: wow!
Der Preis von 29,95 Euro geht dabei auch in Ordnung, so dass ein Fazit hier so leicht ausfällt wie lange nicht mehr: Toller Inhalt in prächtiger Optik: Wer auf modern horror steht, der sollte „Cthulhu Now“ im Schrank stehen haben. Fast makellos gut.
Name: Cthulhu Now
Verlag: Pegasus Press
Sprache: Deutsch
Autoren: Frank Heller (Hrsg.) {jcomments on}
Empf. VK.: 29,95 Euro
Seiten: 244