Berlin - Im Herzen der großen Stadt

Wild und quirlig ist sie, die Riesenstadt, aber golden nur in Erinnerungen, denn das Leben ist schwer in den neuen Zeiten und in einer zerbrechlichen Republik, die keiner will. Neu ist auch die eingemeindete Stadt mit ihren 4 Millionen, neu sind die Massen, die vorwiegend aus dem Osten kommend nach einem besseren Leben suchen. Glück hat, wer zu Geld kommt, auch wenn er es in inflationären Zeiten verlieren wird, Glück hat, wer nicht auf den Listen nationalistischer Mörder steht und nicht bedroht oder irgendwann sogar umgebracht wird. "In" ist, wer Geld hat und sich sehen lässt im Kempinski oder auf Pressebällen und Funkausstellungen erscheint. "In" ist, wer mitreden kann auch ohne Geld und seine Stunden im Romanischen Café oder zwischen anderen Künstlern in Berlin absitzt. Berlin, das sind düstere Mietskasernenhöfe, mondäne Villen am See, Elektrowerke, Gaslaternen, Pferdebusse, Autobahnen, 50 Theater, 16.000 Kneipen, Bars und Revuen, Arbeiter im Osten, behäbige Bürger im Westen, Grünanlagen, FKK Strände, Obdachlosenasyle zwischen Gleisanlagen, Promenaden, Filmschauspieler, Huren, Gigolos, Tänzer, Polizisten und Verbrecher als Vereinsmeier. Berlin ist eben Berlin..
vom Backcover von Berlin

Lange hat man auf ihn gewartet, dann war es endlich soweit und er erschien: der Berlinband für Cthulhu, zugleich die Eröffnung für die groß angekündigte Reihe in Deutschland angesiedelter Cthulhu-Produkte.
Zuerst mag man zwar etwas überrascht ob des nicht ganz niedrigen Preises geblickt haben, doch hält man den Band einmal in den Händen, so versteht man das auch. 192 Seiten, bis auf den letzten Millimeter gefüllt mit recht eng gesetztem Text, schönen historischen Fotos, noch schöneren Karten und gewohnt umfassenden Handouts.

Die optische Präsentation ist ohnehin wieder über jeden Zweifel erhaben, angefangen bei dem gewohnten, dennoch guten Innenlayout mit Randbalken, der Schrifttype, die der von Leonardo daVinci nachempfunden wurde und allem, was man so kennt, bis hin zu einigen brandneuen Illustrationen und zum etwas neu gestalteten Cover.
Die Illustrationen sind von François Launet, dem begnadeten Künstler, der auch die Cover der Cthuloide Welten-Ausgaben 1 und 3 gestaltet hat und auch diesmal gewohnte Qualität liefert. Insbesondere das Einleitungsbild des ersten Kapitels mit dem Brandenburger Tor hat mich endlos begeistert!
Beim Cover bleib der Look zwar erhalten, doch wurden weit mehr bandspezifische Elemente eingebettet, so sieht man diverse Fotos, stellt mit Freude fest, dass der Cthulhu auf dem orangefarbenen Medaillon in der Mitte sich diesmal majestätisch-bedrohlich über dem Brandenburger Tor erheben darf und erkennt im Hintergrund der gesamten Vorderseite die Karte von Berlin.
Sehr schön, sehr stimmungsvoll und tatsächlich noch mal eine Verbesserung, gibt es dem Band doch einen individuelleren Look, ohne mit dem alten zu brechen.

Aber apropos Karte von Berlin … da liegt natürlich auch eine bei. Es ist eine großformatige Reproduktion einer historischen Berlinkarte und wirklich ein Genuss - sie wirkt sehr authentisch (vielleicht bis auf das hässlich auf weißem Untergrund liegende Logo des Bandes und des System oben in der Ecke) und stellt alleine mit Sicherheit schon einen wundervollen Handout dar.
Kritisch sei nur angemerkt, dass die Karte hinten entlang einer Pfalz aus dem Buch zu lösen ist, was sich aufgrund des "historischen" Papiers allerdings als spannender Wettlauf, wer zuerst reißt, die Pfalz, die Karte oder die Klebebindung des Bandes, entpuppt hat.
Da wäre eine Plastiklasche, wie etwa bei den deutschen WFRP-Produkten oder der brandneuen "Geographia Aventurica" aus dem Hause FanPro vermutlich doch die bessere Wahl gewesen.

Aber auf zum Inhalt, denn der interessiert ja doch weit mehr, gerade bei diesem Umfang.
Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis ist … dann erst mal nicht sehr vielsagend. Vier Punkte stehen dort, "Golden glänzt Berlin", "Der tanzende Faun", "Jahrhundertsommer" und "Handouts & Mythostexte".

Gut, was der letzte Punkt wohl bietet ist abzusehen, aber fangen wir doch vorne an…
"Golden glänzt Berlin" stellt den Hintergrundteil des Bandes, während die beiden darauffolgenden Kapitel zwei Abenteuer darstellen; eine Aufteilung, wie man sie aus "Wales" ja schon kennt, wenn auch hier natürlich auf insgesamt knapp 100 Seiten mehr.
28 Seiten umfasst die allgemeine Tour durch Berlin und ich muss sagen, selten haben ich einen so durchrecherchierten Artikel gelesen. Hier wird alles abgedeckt, von den Örtlichkeiten, den allgemeinen Lebensumständen, dem Leben und Nachtleben der großen Stadt, dem was Zeitungen so schreiben und vielem mehr bis hin zu den extravaganten Seiten der Stadt wie etwa der erstmals aufblühenden Filmindustrie.
Wenn selbst Berliner sagen, der Artikel habe sie noch mit Neuem überrascht, dann ist das auch klar eine Auszeichnung an den vom Ex-Chefredakteur Wolfgang Schiemichen, in Zusammenarbeit mit Nathanael Busch und Jakob Schmidt, verfasst hat.
Der Preis für die unglaubliche Informationsdichte zahlt dabei allerdings die Atmosphäre, denn leider wurde auf Umschreibung zugunsten des Platzes meistens verzichtet. Das macht den Artikel zu einer sehr sinnvollen Lektüre, aber leider auch zu einer sehr langweiligen.

Das erste Abenteuer, "Der Tanzende Faun", geht dann ebenfalls auf das Konto von Wolfgang Schiemichen. Ein Abenteuer, das mich zweigeteilt zurückgelassen hat.
Auf der einen Seite steht die Handlung, die man wirklich loben muss. Sie ist komplex, durchdacht, hat einige klasse Wendungen drin und ist zudem sehr eng in das ganze Berlin-Klima verwoben (klar, ist ja auch der selbe Autor wie bei dem Hintergrundartikel), so dass man schon Hoffnung auf eine grandiose Atmosphäre haben kann.
Das Problem des Abenteuers liegt aber auch in seiner Komplexität, ich war beim Lesen mehrfach unschlüssig, ob das Szenario angedacht war, wirklich gespielt zu werden - denn mehrere Fallstricke liegen im Weg des Spielleiters.
Denn zunächst einmal wiederspricht der Plot in einigen Punkten klar dem, was ich persönlich in Abenteuern für sinnvoll halte. Er bezieht sich sehr auf einen bestimmten Spielercharakter, lässt die anderen mehr oder weniger als "Supporting Cast" zurück. Das ist okay, wenn sie noch was anderen zu tun haben, in einer Kampagne etwa, aber wer das Szenario als One-Shot spielt, der hat da schon seine Schwierigkeiten.
Und auch der Charakter im Rampenlicht wird eben doch sehr bei der Hand genommen und herumgeführt, da ist aus Sicht des Spielleiters jedwede Eigeninitiative er nach- als vorteilhaft.
Auch hier kann man als SL natürlich vieles überspielen, aber man ist eben doch sehr gefordert.
Die größere Schwäche liegt allerdings in der Gesamtpräsentation, denn das Abenteuer ist vor allem eines: unübersichtlich. "Aus dem Buch heraus" kann man es vermutlich kaum leiten, und auch ein- oder zweimaliges Lesen bringt da nur wenig Abhilfe. Da müssen schon komplexere Notizen und Vorbereitungen her, etwas, was ich bei einem gekauften Abenteuer eigentlich eher ungern habe.
Dafür wird man aber, wie gesagt, mit einer spannenden Handlung belohnt, die als Inspiration sicherlich wirkt, mit etwas Vorarbeit aber auch ein schönes Abenteuer liefern kann.

"Jahrhundertsommer" ist dann auch der einzige Beitrag des Bandes, der nicht von Wolfgang Schiemichen verfasst wurde, sondern von Jan Christoph Steines, über den man fortan bei Cthulhu ja auch noch öfter stolpern sollte.
Das Abenteuer selbst ist aber vom gewohnten Schlag, "Cthulhumatrix" ist hier das Zauberwort, so jedenfalls hat der jetzige Cthulhu-Chefredakteur all die unzähligen Abenteuer zusammengefasst, die sich der selben Stilmittel bedienen.
Etwa der klassischen verschwunden Personen und um Hilfe bittenden Freunde, denn die kriegt man auch hier geboten.
Im brütend heißen Sommer des Jahres 1925 (daher der Titel) bittet ein befreundeter Immobilienmakler die Spieler darum, für ihn auf die Spuren seiner verschwundenen Angestellten Valeska Loeschke zu gehen … und der Cthulhu-Veteran ahnt nun schon Böses, denn nach einem langen Rechercheteil in der Hauptstadt geht die Reise noch heraus aus der großen Stadt und hinein in den Trubel, denn wieder einmal versuchen irre Kultisten etwas zu wecken.
Wie schon beim "Tanzenden Faun" stolpert der "Jahrhundertsommer" etwas über seine Handlung. Denn wo Schiemichens Abenteuer in seinen vielen Varianten und in seinem spielfremden Charakter seine Tücken hat, so ist "Jahrhundertsommer" eben etwas zu sehr das klassische Cthulhu-Szenario. Daran kann auch der hohe Detailgrad in Sachen "Berlin" und das interessante Setting in der irren Hitze des damaligen Sommers nichts ändern.
Das bedeutet keinesfalls, dass es schlecht ist, nur bedient es eben eine etwas andere Klientel und ist wohl auch vor allem für Leute interessant, die nicht jede Woche die Innovation suchen.
Es ist besser als viele seiner Konkurrenten und machte auch durchaus Freude zu lesen, es ist aber eben auch nicht gerade der hellste Sterne am Abenteuerhimmel.

Abgerundet wird der Band dann noch von wirklich schönen Handouts, denn hier kann man auch schon den Beginn des neuen Trends beobachten: handgeschrieben Handouts.
Zwar sind die meisten noch immer Texte, denen einfach eine andere Schriftart und unter umständen ein entsprechender Untergrund gewehrt wurde, aber jene, die Kostja Kleye gestaltet wurden, sind einfach klasse, sehen wunderbar und - vor allem - authentisch aus!
So hat man sich das doch immer gewünscht!
Zudem wurde das Maß an spielrelevanten Handouts dach den Mythosbuchauszugexzessen von "In Nyarlathoteps Schatten" wieder deutlich erhöht, ohne dabei aber auf atmosphärische Stückchen zu verzichten, hier also erhält der Band noch mal eine klares "Bravo" von mir!

Zeit für ein Fazit und das ist schwer wie selten zuvor…
In "Berlin" ist nahezu jeder Vorteil auch zugleich ein potentieller Nachteil, jeweils davon abhängig, was der Leser will. Der Hintergrundteil ist von umwerfender Genauigkeit, ist aber eben auch eine entsprechend eher trockene Lektüre.
"Der Tanzende Faun" ist ein Abenteuer mit einer klasse Handlung und vielen schönen Ideen, ist aber zugleich eben auch die Hölle für einen Spielleiter und verlangt ihm viel ab.
"Jahrhundertsommer" ist da weit genügsamer, ist dafür aber auch allgemein bekanntere Kost und man hat etwas in der Art vermutlich auch schon mal gelesen, wenn auch bei weitem nicht immer so schön verpackt.
Die Ausstattung ist eben gewohnt über jeden Zweifel erhaben, die Übersichtlichkeit … quasi nicht vorhanden. Ein vier Punkte umfassendes Inhaltsverzeichnis, dazu noch das Fehlen eines Index, ist bei 192 Seiten einfach unzureichend.

Wenn mich aber jemand fragt, ob der Kauf von "Berlin - im Herzen der großen Stadt" ein lohnender Kauf ist, dann lautet meine Antwort klar "ja". Es kann noch viel verbessert werden, was aber nichts daran ändert, dass eben doch eigentlich jeder etwas in dem Band finden dürfte, was ihn anspricht - und Berlin ist und bleibt einfach ein wunderbares Setting in der klassischen Cthulhu-Epoche.


Name: Berlin - Im Herzen der großen Stadt
Verlag: Pegasus Press
Sprache: Deutsch
Autoren: Wolfgang Schiemichen, Jan Christoph Steines u.a.
Empf. VK.: 29,80 EUR {jcomments on}
Seiten: 192 + historische Karte