Digital Burn - A Resource for a Cybernetic Future

You're dead.
You know you're dead.
No one's even going to remember you.

Funny how when you're dead, you never feel more alive.
- vom Backcover von Digital Burn

"Gut geklaut ist halb gewonnen"
Was schon bei der Konkurrenz in Form von Exalted zum Erfolg führte (man siebe aus dem Genre alle erfolgreichen Konzepte heraus, schmecke sie neu ab und rühre sie zu einem System zusammen) scheint auch ein wenig die grundsätzliche Designidee hinter dem vorliegenden D20-Supplement "Digital Burn", ab jetzt DB gewesen zu sein.
Living Room Games (im Folgenden LRG), die netten Jungs die Earthdawn in Amerika schon in die zweite Edition geführt haben, zeichnen sich für das System bzw. vielmehr das Kampagnensetting verantwortlich, welches nun vor uns liegt.
Und eine Marktlücke gab es da sicher, denn Cyberpunk ist momentan ohnehin nicht der heißumkämpfteste Sektor des Rollenspielmarktes, bei D20 gleich doppelt nicht.
Dennoch scheint man das Vertraute mit genug Neuem abgeschmeckt zu haben, so dass es mir erst den Kauf und nun später die Rezension dieses Werkes durchaus wert war.

DB kommt im Hardcover daher, wie man es von D20-Büchern gewöhnt ist, mit Fachrückenbindung, Hochglanzdruck (allerdings schwarzweiß) und einem massiven wie unverwüstlichen Umschlag.
Der ist ganz nett aufgemacht und kopiert das D&D-Outfit, also die Nachbildung eines der behandelten Welt entspringenden Buches, nur dass das, was beim PHB etwa noch ein mittelalterlicher Foliant war, hier nun ein in chrombesetztes Leder geschlagenes Buch ist.
Auffälliger allerdings ist hier schon, dass das Titelmotiv selbst ein Foto ist, ein Trend, der sich zur Überraschung vieler drinnen fortsetzt.
Denn auf den 160 auf ultradünnen Papier, das sich sehr seltsam - aber cool - anfühlt, gedruckten Seiten findet man keine gezeichneten Illustrationen, Fotos sind hier angesagt.
Und ein Blick ins Impressum offenbart, was man vermutlich schon halb befürchtet hat: die komplette Belegschaft und der Freundeskreis von LRG wurden hier in Ledermäntel gesteckt, mit Sonnenbrillen, Knarren und Cyberwareimitaten versehen und abgelichtet. Das Kuriose: es sieht gut aus. Richtig gut sogar.
Zwar wiederholen sich einige Gesichter durch den Band hinweg, doch bei LRG arbeiten sehr viele fotogene Menschen, ebenso wie wohl ein gekonnter Bildbearbeiter, denn auch sämtliche Effekte wie etwa subdermale Uhren, die ihre Zeitanzeige durch die Haut projizieren, sehen überzeugend aus.
Der Look des Buches ist daher sehr eigen und es ist eine willkommene Abwechslung von klassischen Hobbyeinerlei, das abseits von eher historischen Rollenspielen doch selten Gebrauch von Fotos macht.
Und die peinlichen Fotos aus den offiziellen WoD-LARP-Regelwerken, ohnehin schon gedruckte Hässlichkeit, müssen sich nun auch noch sagen lassen: die Jungs von LRG, einem waschechter Kleinstverlag, sie um gigantische Längen geschlagen haben.

Bleibt abzuwarten, ob der Inhalt gleichziehen wird…
Nach eine langen Vorwort von Rob Boyle (richtig, der Shadowrun Line Developer, also ein Vorwort von der eigentlich allerhöchsten Konkurrenz) landet man recht schnell beim Intro, stilecht "In the Beginning" genannt.
Ein In-Time-Text führt den geneigten Leser in die Welt von "Digital Burn" ein und schnell ist man in den Bann geschlagen. Zwar ist es typischer Cyberpunk und William Gibsons Gedanken schweben auch hier umher, doch es ist schnell klar, ein exakter Klon wie etwa "Shadowrun" (die sich ja selbst die Eigennamen fiktiver Kreationen des Autors entliehen haben) ist dies hier nicht.
Man erfährt etwas über die Hintergrundgeschichte und -welt, aber nicht genug, um wirklich Bescheid zu wissen. Es ist ein Aperitif, und zwar ein guter.

"The Way of the Future" ist das erste "richtige" Kapitel und dreht sich direkt um etwas sehr wesentliches: Charaktere.
Das Buch präsentiert keine Grundcharakterklassen sondern verweist auf d20 Modern, gibt einige Ratschläge, wie man die aus dem PHB und allen anderen Werken konvertieren kann, sowie den gut gemeinten Tipp, Anfangscharaktere auf Level 3 zu generieren, damit sich nicht, Zitat, "toter als Elvis" enden. Wohl aber präsentiert das Buch neun "Advanced Classes", die man bald ergreifen kann.
Blanks (ganz grob Obdachlose), Cops, Fixer, Gange, Hacker, Icons, Medicos, Mercs und Spanner (Technikbastler) - eine gute Auswahl, mit allen notwendigen Hintergrundinfos, Fertigkeiten und eben allem, was eine D20-Klasse so braucht.
Ebenfalls auffällig ist hier auch der aus der WoD bekannte Trend, einzelne Unterkapitel mit Literaturzitaten zu untermalen, der hier wie dort gut glückt. Allerdings ist die Bandbreite der gebotenen Zitate hier schon beachtlich: von Oscar Wilde zu Eminem, von M*A*S*H zu Adolf Hitler (kein Scherz!) ist hier so ziemlich alles vertreten.

Danach folgt Kapitel zwei, "Building the perfect Beast". Was nun klingt wie ein furchtbares Powergamerkapitel kümmert sich auf sechs Seiten allerdings einfach nur um die Charaktererschaffung. Alte Skills werden neu betrachtet, neue Skills werden vorgestellt, ebenso wie neue Feats vorgestellt werden. Eben das Cyberpunk-Update des PHB.

"Bleeding Chrome" stürzt sich dann auf das nächste Themengebiet, das man so liebt: die Cyberware. Neben den kurzen und simplen Regeln erwarten einen gut dreißig Seiten voll "Cybernetics" und mit Freude stellt der Leser fest, dass man hier wesentlich logischere Wege geht als etwa Shadowrun.
Extremen Unsinn wie "Hyperschilddrüsen" findet man hier nicht, dafür aber neben den ganzen klassischen Körperverbesserungen eben auch Güter von Luxus bis reine Dekadenz, etwa die eingangs erwähnte subdermale Uhr, künstliche Fangzähne als Piercing von Morgen oder auch einfach verschiedene Augendesigns.
Diese Ergänzungen wirken einfach wie aus einer funktionierenden, naja, laufenden Welt herausgenommen, nicht aus einem 1st-Person-Shooter, was DB direkt einen dicken Pluspunkt einbringt.

Damit das Individuum dann auch nicht wehrlos auf die Straße muss, folgt dann noch "Bells and Whistles", das Waffenkapitel. Keine großen Überraschungen hier, außer vielleicht den Bildern, die mit ihrem Mallcharakter durchaus noch mal eine Verschärfung dessen sind, was man in Amerika heute findet … oder eben auch genau das.
Aber auch genug normale Ausrüstung kann man zumindest kaufen, wenn es auch keine Möbelbeschreibungen oder dergleichen gibt, in den Listen sind solche Sachen auch drin.

Mittlerweise sind wir dann auf Seite 90 und es wird langsam Hintergründiger.
"Through Burn Colored Glasses" nennt sich Kapitel fünf und beschreibt eben das Netz des Systems, das, was bei Shadowrun die Matrix ist.
Auch hier kriegt man generell gewohnte Kost vorgesetzt. Künstliche und virtuelle Realitäten, AIs, Viren, Würmer, Netzkampf und neuronale Interfaces. Wer "Neuromancer" oder einen seiner Erben kennt, der weiß, worum es geht.

Interessant wird es aber mit dem nächsten Kapitel: "The World outside your window". Hier wird die Spielwelt vorgestellt, die auch zugleich für mich eines der Highlights des Systems darstellt, denn hier wird mal nicht blind Gibson gefolgt, hier wurde eine konsequente Weiterentwicklung unserer jetzigen Gesellschaft betrieben.
So sind es bei "Neuromancer" und anderen Werken Gibsons wie etwa auch bei Blade Runner und Shadowrun noch die Japaner, die die Welt sozusagen dominieren, aus der Sicht eines Menschen im Jahre 2003 aber vollkommen utopisch.
Somit ringen die Japaner eher darum, sich zu halten, ebenso wie die Russen, denn auch der Ost-West-Konflikt ist eher passé. Vielmehr lässt der transnationale Terrorismus die Leute erzittern und jeder rüstet auf Massenvernichtungswaffen, natürlich nur, um sich im Bedarfsfall wehren zu können.
Klingt erschreckend real? Ist es auch…
Wer also fragt wie denn die Vorgeschichte zu DB sei, der muss einfach nur täglich Nachrichten schauen…
Konzerne und Megaplexe gibt es hier auch, allerdings sind hier auch realistischere Verhältnisse angesagt und ein sehr illustres Beispiel um Abschnitt über Spezialsondereinsatzkommandos macht klar, dass niemand mit den "Großen" spielen sollte…
Dazu gibt es dann noch diverse Untergrundbewegungen, von Kurios ("Sanity Claus") über ganz dicke Jungs ("The Puppeteers") bis realistisch-klein ("The Hive").
Was mir hier allerdings durchaus unangenehm auffiel ist das Fehlen von Europa. Ja, das Fehlen. Das wir nichts zu melden haben in der Welt scheint die jüngste Vergangenheit ja zu belegen, uns aber in der Länderübersicht nicht mal mehr zu erwähnen war schon etwas viel des Guten.

Das siebte Kapitel, "The Savage and the Tame", bietet dann wieder einen guten Schnitt zwischen Hintergrundinfos und Regeln, denn hier geht es um Prestigeklassen, Multiklassenpfade (sprich: "SWAT") und NSC-Klassen. Mit acht Seiten kurz, prägnant und durchaus sinnvoll.

Kapitel acht trägt dann einen der coolsten Namen, die ich je gelesen habe: "Rules, Rules and more Rules" - was da wohl drin steht?
Hier kommt auf 13 Seiten die finale Anpassung von D20 ans Setting, von Regeln zum Autofahren, Medizin und Krankheiten bis hin zu Drogen, hier ist alles drin.
Aber wieder sehr nett und mit viel Unterhaltungswert geschrieben und dennoch nicht unangenehm aufgebläht.

Zwei Seiten Schlagworte, zwei Seiten Index und die unvermeidbare OGL runden den Band ab.

Fazit? Grandios!
LRG haben etwas umgesetzt, was ich mir lange erhoffte hatte: ein modernes Cyberpunksetting.
Keine Magie, realistisch, düster und nachvollziehbar, eine mögliche, aber definitiv konsequente Weiterentwicklung unserer jetzigen Postmoderne, teilweise schon beängstigend konsequent.
Mir hat "Digital Burn" jedenfalls viel Freude gemacht, schon alleine als Lektüre an sich, untermalt von den gelungenen Fotografien. Ob's D20 hätte sein müssen, wird offen bleiben, aber generell funktioniert das System, denke ich.
Der Hintergrund jedenfalls ist nett, wie die Optik, und das Buch einen Kauf bzw. sein Geld wert.
Beide Daumen hoch!


Name: Digital Burn
Verlag: Living Room Games 
Sprache: Englisch{jcomments on}
Autoren: diverse
Empf. VK.: 35 US-Dollar 
Seiten: 160