Diaspora

Was haben ein Haufen Kanadier, alles beinharte, langjährige Traveller-Spieler mit Fate zu tun? Die Antwort: Diaspora, ein nach eigenem Bekunden "hard science fiction"-Rollenspiel, das das sehr erzählerisch aufgebaute Indie-Rollenspiel mit dem alles-hat-viele-Werte-Regelwerk für unterforderte Maschinenbauer versöhnen soll. Das Ergebnis zeigt, dass Fate kein Spiel für kuschlige Märchenonkel sein muss, sondern durchaus auch echten Männern, die wissen, wie man am Spieltisch einen Taschenrechner benutzt, ein crunshiges Vergnügen bieten kann.

Bevor ich zum Inhalt des Buches komme, aber noch ein paar Worte zum physikalischen Produkt: Diaspora füllt recht beeindruckende 270 Seiten eines Softcoverbandes im Comicformat. Das Cover und das Layout sind... ich will nicht sagen hässlich, aber anders. Das Cover zeigt einen weißen spiraligen, blubberblasigen Wischwasch auf dunklem Grund, der aussieht wie das Ergebnis einer Liebesnacht zwischen einer Galaxie und dem Großen Alten Yog-Sototh. Irgendwo draufgepatscht eine Tafel in semitransparentem Rostrot mit dem Titel in serifenloser, maigrüner Schrift. Innen gibt es an Illustrationen nur Diagramme, weitere computergenerierte Spiral-Wuschis und ein paar Bilder, die aussehen, wie die Zeichnungen eines SF-Rollenspiels aus den allertiefsten 80ern.

Das Layout schwankt zwischen einem schmucklosen, nüchternen Text, der kaum von gestalterischer Hand berührt wurde und gewagten Designelementen wie nur in Minuskeln gesetzte Überschriften und Textkästen mit gerundeten Ecken und Schattierungseffekten, die in der nüchternen Welt des reinen Textes fast schon bizarr wirken.
Als ich Diaspora das erste Mal aufschlug, fühlte ich mich sofort an ein Fachbuch "Automatenlogik" aus meinem Informatikstudium erinnert, eins von vielen wissenschaftlichen Werken, die ihren Inhalt gern in gewagte Farbkombinationen und eher außergewöhnlicher Textgestaltung präsentieren.
Ich weiß nicht, ob es so geplant war, aber dass Diaspora in der Aufmachung wirkt wie ein technisches Fachbuch passt ziemlich hervorragend zum Konzept eines Rollenspiels, das sich "Regelbaukasten" und "hard science" auf die Fahnen geschrieben hat.
Weil ich das Produkt eigentlich mag, neige ich daher dazu, das Layout als geschickte Hommage an Fachliteratur zu sehen, die damit nicht hässlich, sondern authentisch ist.

Da der Verlag der Autoren, vsca publishing, mit Evil Hat kooperiert, bekommt man das Buch über den Evil Hat Webstore inklusive einer Gratis-PDF-Version und durch die Bricks-and-Bits-Politik kann auch jeder Rollenspielladen international das PDF zur gekauften Hardcopy gratis dazubieten. Als braves OGL-Produkt steht natürlich auch das SRD von Diaspora gratis im Netz zur Verfügung.

Worum geht es in Diaspora? Zuerst einmal geht es um ein bestimmtes Subgenre der Science Fiction, ein Raumfahrt-Setting, in dem die uns bekannten Gesetze der Physik uneingeschränkt gelten. Damit gibt es keine Fantasietechnik wie Überlichtgeschwindigkeit, Raumjäger, künstliche Schwerkraft, Beamen, Subraumfunk und andere Elemente aus Star Trek. Raumschiffe sind vielmehr riesige Antriebssysteme, an denen irgendwo ein Druckcontainer mit Lebenserhaltungssystemen verbaut ist, den man mit einem einzigen Schuss aus einer Pistole durchlöchern kann. Raumfahrt basiert auf dem Verbrauch eines Treibstoffs, aus dem das Schiff zum größten Teil besteht und der Vorrat reicht immer nur für eine Reise, die dafür sehr lange dauern kann. Populäre Beispiele für solche Settings wären etwa die Alien-Filme oder 2001: A Space Odyssey.
In Diaspora gibt es weitere Annahmen, etwa, dass Raumfahrtzivilisationen aus sogenannten "Clustern" bestehen, Sonnensystemen, die durch geheimnisvolle Dimensionstunnel, den "Slipstreams" miteinander verbunden sind oder dass eine Zivilisation, die solch einen technischen Stand erreicht hat, dass sie an die Grenzen der uns bekannten Naturgesetze stößt, in sich zusammenbrechen muss. Diese Annahmen beschreiben aber keine Spielwelt, sondern sind die Eckpunkte, nach denen sich die Rollenspielgruppe eine eigene Spielwelt zusammenbauen kann, solange sie diesen Vorgaben entspricht.

Als Grundlage für die Diaspora-Regeln dient das Fate-System, das von den Autoren für ihre Zwecke leicht modifiziert wurde. Manche Änderungen sind ziemlich egal (zum Beispiel wurden die Begriffe der Fate-Ladder leicht abgeändert), manche pfiffig (zum Beispiel, dass man die Würfel nach dem ersten Wurf in einer Kampfrunde liegen lässt und das gewürfelte Ergebnis für alle weiteren Proben beibehält), aber in den meisten Fällen wurde dazu tendiert, das System crunshiger zu machen. Gerade im Bereich Kampf und Raumschiffkampf gibt es zahlreiche spezielle Skills (wie etwa ein Skill für Kampf in der Schwerelosigkeit), Invokes und Compels in Kampfsituationen wurden sehr genau definiert, Waffen und Ausrüstung  haben zahlreiche Werte und Aspekte, es gibt ein Konfliktsystem für Geld und Ressourcen (komplett mit Finanzen-Stresstrack).

Das Ganze resultiert aus einem Grundkonzept der Entwickler für das Spiel, das mir so formuliert noch nicht untergekommen ist: Im Prinzip gehen sie davon aus, dass Konflikte und Ähnliches ein "Minispiel" innerhalb des gesamten Rollenspiels sind. Im Prinzip spielt man eine Geschichte, interagiert mit NSCs, streut und sammelt Informationen und trifft Entscheidungen, aber sobald es zum Kampf kommt, fällt das alles weg, die Charaktere verwandeln sich von Figuren in einer Geschichte in Figuren auf einem taktischen Spielbrett und versuchen, mit genau definierten Regeln, das "Minispiel" zu gewinnen. Ist der Kampf entschieden, geht das normale Story-Rollenspiel von da aus weiter.

Auch Charaktererschaffung und die Regeln zur Welterschaffung sind nach der Vorstellung der Autoren Minispiele mit eigenem Wert, die mit der Gruppe als Unterhaltung durchgeführt werden. Das geht dann so weit, dass sogar der Vorschlag gemacht wird, die Minispiele aus dem Rollenspiel auszuklinken: Ein Abend mit Freunden und allen ist langweilig? Bauen wir doch einfach ein paar Cluster zusammen! Es ist Rollenspieltermin, aber alle sind aggro drauf und wollen sich einfach nur abreagieren? Nehmen wir die Charaktere, die wir letzte Woche einfach mal zum Spaß zusammengebaut haben und lassen die in einer sinnlosen Schießerei gegen einen Trupp Space Marines antreten. Das eigentliche Spiel mit den eigentlichen Charakteren gibt es dann beim nächsten Mal wieder.
Von diesem Ansatz ausgehend haben die verschiedenen Generierungs- und Konfliktsysteme entsprechend viel Liebe und Aufmerksamkeit bekommen.

Das Ergebnis ist ganz interessant. Vor allem das Schiffskampfsystem ist ziemlich gut gelungen für einen Raumkampf ohne Jäger, Schutzschilde und Warp-Antrieb und wäre auch für ähnliche Szenarien (also etwa ein Kampf zwischen Segelschiffen in der Kolonialzeit) gut einzusetzen. Besonders cool finde ich, dass zwar das Schiff als Ganzes einen einzelnen Charakter darstellt, aber die Charaktere der Spieler in den einzelnen Kampfphasen jeder individuell etwas beitragen kann, so dass keiner einfach nichts zu tun hat.
Regelrecht genial finde ich das Massenkampfsystem, das nicht mehr und nicht weniger ist als ein Einheiten-Tabletop-Strategiespiel mit Fate-Regeln. Und zwar ein richtig Gutes, komplett mit Einheitenbaukasten und Punkte-Balancing, das man auch für andere Settings und Zwecke gut einsetzen kann und für das man im Prinzip nicht mehr braucht als die Regeln, Papier und Stift.

Etwas enttäuschend fand ich dagegen die Regeln zum Weltenbau. Im Prinzip eine auf Fate basierende Anleitung zum Brainstorming, nach der dann Cluster ziemlich frei erschaffen werden. An sich funktioniert das recht gut, mit Würfeln werden zufällig Werte generiert, die dann von den Spielern gemeinsam interpretiert werden. Ein Wüstenplanet mit einer großen Zivilisation? Warum? Gab es eine Katastrophe und das System kann die Bevölkerung nicht ernähren, die nun mit allen Mitteln zu fliehen versucht? Oder ist eine wertvolle Ressource das elende Leben auf diesem Stein im All wert? Was ist mit dem ressourcenreichen, paradiesischem Nachbarsystem mit den primitiven Einwohnern? Ist es neu entdeckt worden und jetzt droht eine Invasion durch technisch überlegene Völker? Oder schützt ein jahrtausendealtes religiöses Tabu die Bewohner?
Ein Hintergrundwelt ist so schnell erschaffen, aber das war es dann, der SL muss von da aus sehen, wie er mit dem Material eine Geschichte herbeizaubert.
Ich hätte mir vorgestellt, dass es da noch weiteren Input zum Spielleiten gibt, nicht einmal unbedingt ein System für Locations und NSCs, wie es das beim Dresden Files-Rollenspiel gibt, aber zumindest ein paar Spielleitertipps, den Hintergrund dramaturgisch zu verwursten.

Regelrecht entsetzt war ich vom sozialen Konfliktsystem, das ein Kernstück des Rollenspiels, soziale Interaktion mit NSCs, auf eine un-glaub-lich taktische Ebene bringt: Wenn mein Charakter eine Frau herumkriegen will, wobei es allerdings Nebenbuhler gibt, dann spielt sich das auf einer de facto gezeichneten "sozialen Landkarte" und ich versuche, mit Angriffen und Manövern die Gegner ins Aus und die Begehrte in die Zielzone zu bringen. Bei irgendwelchen Politkampagnen und komplizierten diplomatischen Verhandlungen ist das noch ganz ok, aber wenn jeder Brötchenkauf potentiell in ein soziales Gefecht mit allen taktischen Finessen eskalieren könnte, dann ist mir das doch irgendwie zu sehr Minispiel und würde mich völlig aus der Handlung reißen.

Abschließend lässt sich noch sagen, dass Diaspora extrem knapp und fast präzise geschrieben ist. Das passt wieder zur Vorlage eines Fachbuchs und dank Fate-Vorkenntnissen konnte ich bei der Lektüre die Besonderheiten und Regeländerungen leicht ausmachen, was ich sehr angenehm fand. Auch beim Nachschlagen findet sich schnell das Gesuchte. Aber wenn Diaspora mein erstes Fate-Buch gewesen wäre, dann hätte ich wahrscheinlich jeden Satz dreimal lesen müssen, um alles zu verstehen, denn das Buch ist fordernd und hat nicht die superweiche Lernkurve von etwa Spirit of the Century.

Mein Fazit: Diaspora ist nicht das ideale Spiel, um in Fate einzusteigen und bedient mit seinem "hard science-fiction"-Anspruch eine ziemlich exotische Genre-Nische. Für Fate-Kenner (oder Hardcore-Travellerspieler, die mal andere Regeln sehen wollen) hat Diaspora in jedem Fall ein paar spannende Ansätze auf Lager. Wer weiß, dass er einen Bausatz kauft und kein fertiges Spielzeug, und wer gern exaktere Regeln und mehr Werte in Fate hätte, der kann auf jeden Fall einmal einen näheren Blick riskieren. Wem es nicht gefällt, der kriegt immerhin noch ein brauchbares Tabletop mitgeliefert...


Titel: Diaspora
Originalausgabe
Autoren: B. Murray, C.W. Marshall, T. Dyke, B Kerr
Verlag: vsca publishing / Evil Hat Productions
Seitenzahl: 270
Sprache: Englisch
Preis: $ 24.99 (Print + PDF)

Hinweis: Eine Besprechung des Fate-Regelwerks, auf dem dieses Spiel basiert, ist in einer anderen Rezension hier zu finden. {jcomments on}