Shadowrun 4 – Schattenstädte
Viel hatten Fanpro seinerzeit, kurz vor dem endgültigen Niedergang des einstiegen Flaggschiffverlages der deutschen Rollenspielszene, zur vierten Edition von Shadowrun ja nicht mehr veröffentlicht. Ein Buch aber, das lange bei mir am Spieltisch immer mal wieder genutzt wurde, war Schattenstädte – das bis dato schlicht ausgeprägteste Stück Setting-Beschreibung zum Jahr 2070, an die man in Deutschland kommen konnte.
Dabei war die Fanpro-Ausgabe echt keine Zierde – ein Softcover mit grellem Comic-Cover, wenn auch zumindest nicht so von Fehlern durchzogen wie FanPros erste Auflage des Grundregelwerks.
Mittlerweile – eigentlich sogar schon lange, aber erst jüngst bei mir eingetroffen – gibt es aber auch hier eine Pegasus-Neuauflage, die schon direkt auf den ersten Blick hin einen professionellen Eindruck macht. Gut, über das neue Cover von Arndt Drechsler kann man vermutlich lange streiten – wer ist diese Frau, warum bemerkt sie nicht dass ein offenbar Hellghast-inspirierter Sicherheitsmann auf sie zielt und warum ist alles pink? –, aber alleine der wertige Hardcover-Einband, der gesteigerte Umfang und die sich einheitlich in die Reihe einfügende Gestaltung machen Lust auf mehr.
Ich werde dabei allerdings in dieser Rezension nur vereinzelt auf die Unterschiede zur Vorauflage eingehen – zumal wir die hier auf der DORP nie besprochen haben.
Optisch kriegt man geboten, was zu erwarten war. Das schwarzweiße Innenlayout entspricht dem Standard der Reihe, was auch für die Illustrationen gilt. Einen einheitlichen Stil gibt es nicht und die Qualität reicht von comichaften Skizzen bis hin zu kleinen Meisterwerken. Richtige Ausreißer sind aber selten und ich denke, jeder wird an der einen oder anderen Illu seinen Spaß haben. Es gibt ein Lesebändchen, das ist sehr löblich, sowie ein gutes Inhaltsverzeichnis, das einem einen Großteil der Navigation in dem Buch abnimmt. Dass es allerdings keinen Index gibt, ist ein unschönes Versäumnis, was mich mehr als einmal schon geärgert hat.
Das Buch beschreibt sieben Städte im Jahr 207x, die für Runner generell von Interesse sein dürften. Der Umfang schwankt dabei sehr deutlich, die Qualität der Beschreibungen ist allerdings ungeachtet davon sehr hoch.
Den Anfang macht dabei Hongkong, das auf über 50 Seiten sehr detailliert und liebevoll, auch durchaus exotisch beleuchtet wird. Dennoch ist bei mir der Funke bei dem Abschnitt irgendwie nur so halb übergesprungen, was aber glaube ich vor allem an persönlichen Vorlieben liegt. Da trifft das zweite Kapitel mit Seattle deutlich mehr meinen Geschmack. Es ist halt der Klassiker und auch nach all den Jahren bin ich die regenreiche ‚Emerald City’ noch immer nicht leid. Sehr viele kleine Details hier helfen, immer mal wieder klarzumachen, warum auch das ja durchaus recht futuristische Jahr 2012 eben noch immer nicht 2072 ist und viele Inspirationen für den Spielleiter wie auch für Spieler finden sich. Kenner der Vorausgabe werden dabei hier einige Unterschiede feststellen, die meines Wissens dem englischen Seattle 2072-Quellenbuch entnommen wurden; das aber ist etwas, was ich mangels des Buches nicht nachprüfen kann. Auch hier wurden über 60 Seiten investiert.
Danach geht es in heimische Gefilde – die ADL wird durch Hamburg repräsentiert. Ein toller Abschnitt voller Lokalkolorit, dem man durchaus anmerkt, dass er mit Liebe zur realen Stadt geschrieben wurde.
Hamburg erweist sich dabei als sehr interessante neue Wahl eines deutschen Settings, gerade auch in Abgrenzung zu den mittlerweile ja in eigene Quellenbände gebannten Örtlichkeiten wie Berlin oder dem Rhein-Ruhr-Megaplex – die Beschreibung hat in etwa den gleichen Umfang wie die beiden vorigen Kapitel und weiß diesen wirklich zu nutzen. Der Kiez ist sicherlich ein interessantes Territorium für die Runner, und ein gutes Beispiel, warum mir der Abschnitt so gefällt: Man erkennt als deutscher Leser einfach die Lokalitäten und Umstände, die hier adaptiert werden. Das ist vermutlich bei dem Seattle-Teil nicht anders, aber die Nähe zu unserer Alltagswirklichkeit dürfte für viele Gruppen ein Plus sein.
Der vierte Eintrag in dem Buch fällt nun erstmals etwas kürzer aus – und ist komplett neu in der deutschen Ausgabe: Marseille. „Die Mutter der verlorenen Kinder“ wird die Stadt genannt und ich muss sagen, der Abschnitte hatte es mir sofort angetan. Die Stadt gibt sich ausgesprochen vielgesichtig und bietet ein weites Spektrum von einer klassischen, restaurierten Altstadt und idyllischen Stränden auf der einen, sowie von Baracken gesäumten post-apokalyptischen Landschaften auf der anderen Seite.
Das erzeugt eine Art Kontrastfeld, in dem sich spannende Geschichten fast von selbst zu erzählen scheinen.
Dieser Abschnitt wurde gegenüber der Fanpro-Ausgabe aus dem französischen Äquivalent zu Schattenstädte, Capitales des ombres, übernommen und ergänzt. Sowohl das Setting wie auch die Übersetzung machen einen hervorragenden Eindruck, so dass alleine dieser Mehrwert Grund genug für mich ist, eine Empfehlung für die Neuauflage auszusprechen.
Aber wir sind ja noch gar nicht durch. Es bleiben noch drei Städte, die allerdings sehr kurz auf zusammen gerade mal 13 Seiten abgerissen werden: Kapstadt, Caracas und Istanbul. Hier mag man nun geteilter Meinung sein. Alle drei Städte sind sehr exotisch und bringen einen neuen Flair in die Kampagne, weshalb ich jeden verstehen kann, der sich darüber beklagt, nur so wenige Informationen zu erhalten. Auf der anderen Seite aber war mir der Hongkong-Abschnitt wie gesagt ohnehin zu umfangreich, ohne dass er mich recht überzeugt hätte, so dass mir diese kurzen Abrisse über die drei Städte an sich sogar besser gefallen haben.
Inspirationen und nette Ideen finden sich in jedem der kurzen Berichte – wer allerdings Details braucht und gerade von spezifischen Informationen lebt, für den wird vermutlich das gesamte Kapitel – „Städte im Zwielicht“ getauft – ohne Wert sein.
Neben den besagten sieben Städten gibt es noch ein Kapitel zum Ausklang, was sich etwas mehr an das konkrete Spiel richtet und weniger allgemeine Setting-Details beschreibt. Unter „Leben im Zwielicht“ gibt es ein paar generelle Infos zum Feeling der Schattenstädte und warum gerade deren Lebensgefühl auch zugleich so viele Runner anzuziehen vermag, während im Anschluss noch konkrete Abenteuerideen für Hongkong, Seattle und Hamburg geboten werden. Schade allerdings, dass die in der französischen Ausgabe enthaltenen „Aventures à Marseille“ nicht auch die Kurve zur Übersetzung bekommen haben.
Ein Fazit fällt trotz einiger Detailkritik ausnehmend positiv aus. Schattenstädte ist im Grunde der perfekte Einstieg in die Welt von Shadowrun und ein Tor in jede Richtung, die das Setting zu bieten hat – ob man nun gen UCAS oder ADL strebt, oder ob es einen nach exotischeren Settings verlangt, das Buch ist stets ein guter Helfer.
Die Neuauflage lohnt sich alleine schon wegen Marseille, ist aber auch sonst sehr wohlfein geraten und definitiv eine Bereicherung für die eigene Sammlung. Ein Buch, dass seinen ohnehin fairen Preis definitiv wert ist.
Name: Schattenstädte
OT: Runner Havens
Verlag: Pegasus Spiele
Sprache: Deutsch
Autoren: diverse
Empf. VK.: 29,95 Euro
Seiten: 224 s/w, Hardcover
ISBN: 978-3-941976-00-9{jcomments on}