nWoD – Chicago

Chicago isn‘t corrupt.
It‘s passionate,
genuine,
willing to do whatever it takes,
to be the city it wants to be,
and corrupt.
vom Backcover von WoD – Chicago

Neben mir liegt kein Buch, neben mir liegt eine Waffe. Mit satten 422 redaktionellen Seiten hat „Chicago“ nur wenige Wochen nach dem Erscheinen von „Mage: the Awakening“ der Rekord für das WoD-Buch mit den meisten Seiten noch einmal um einen Deut nach oben gedrängt.
Es ist nicht einmal das generell dickste RPG-Buch, das ich im Schrank stehen habe. Das deutsche „Unknown Armies“ wiegt 436 Seiten schwer, das eher unbekannte Fantasyrollenspiel „Crimson Empire“, das mittlerweile dank Rechtsstreitigkeiten mit LucasArts „Cursed Empire“ heißt, ist sogar pralle 493 Seiten dick. Und das derzeit nur als eBook existierende, bald aber auch im Druck folgende „Earthdawn Classic Player‘s Companion“ ist sogar 524 Seiten schwer.
Aber wollen wir fair sein. Zum einen sind das alles Grundbücher, anders als „Chicago“, und zum anderen sind 422 Seiten noch immer ziemlich einschüchternd.

Was aber schreibt man 422 Seiten lang über Chicago? Der Vampire-Band über New Orleans war 144 Seiten lang, der Mage-Band zu Boston wiegt 150 Seiten. Beides zusammen entspricht nur knapp mehr als zwei Drittel des vorliegenden Hardcovers. Das ist viel.
Der Trick an dem Buch ist es, dass es zwar unter dem „World of Darkness“-Imprint erscheint, aber anders als etwa „Mysterious Places“ oder „Antagonists“ kein generischer Band ist. Nun, es ist ein generischer Band, aber eben einer, der sich ganz explizit an Spieler von „Vampire: the Requiem“, „Werewolf: the Forsaken“ und „Mage: the Awakening“ richtet.
Die 422 Seiten richten sich auf 45 Seiten an alle WoD-Spieler und mit acht Seiten Anhang zumindest an alle der großen drei Systeme, dann aber noch mal separat 150 Seiten lang an Vampire-Spieler, 120 Seiten lang an die Werwölfe und 126 Seiten lang an die Magi der Stadt.
Damit fällt es deutlich aus der generischen WoD-Linie heraus.

Das geschieht aber schon dann, wenn man sich alleine das Cover beschaut. Wo die anderen generischen Bände auf verwaschene, mysteriöse Illus setzen, erinnert der Stil dieses Covers hingegen vor allem an die frühen Tage der alten WoD. Kein Wunder, ist mit Tim Bradstreet doch auch ein richtiges Urgestein für das Artwork verpflichtet worden.
Drei Gestalten stehen dort und verköprern direkt die Einteilung des Bandes. Links steht so eine Art Mischung aus Punk und John Constantine (die Comic-Version) als Vertreter der Magi, rechts eine bleiche, glatzköpfige Gestalt mit ziemlichem Überbis und „bösen“ Tätowierungen und in der Mitte ein Biker mit zotteligen, langen haaren und Bart.
Das Cover ist handwerklich sehr solide, ich persönlich finde es aber dennoch irgendwie unpassend. Anno 2006 wirkt das Motiv schon eher etwas peinlich, insbesondere der Vampir hat es mir da angetan. Angefangen damit, dass er ganz ulkig den Mund aufreißt und seine Zunge rausstreckt, damit man seine tollen Beißerchen sehen kann bis zu dem tollen Sticker auf seinem Jackenärmel („Sisters gegen Nazis“ heißt es da), dieses Bild ist alles, aber nicht passend zur nWoD.
Der Rest des Bandes allerdings sieht bombig aus. Unter den siebzehn Namen der Zeichner liest man unter anderem klangvolle Namen wie Brian Leblanc, Samuel Araya, Marko Djurdjevic, Jean-Sebastien Rossbach und Talon Dunning; Mage-Spieler stellen zudem mit Freude fest, dass ein Teil der Illustrationen im Mage-Kapitel wieder von Michael Kaluta stammt.
Die einzelnen Abschnitt erstahlen ohnehin immer in einem auf das Spiel angepassten Layout. Somit kriegt jeder das von ihm gewohnte Layout zu sehen, ohne dass das Buch dabei wie vollkommenes Flickwerk aussieht. Abzüge bei der B-Note gibt es hingegen für einige ärgerliche Pannen im Satz, die einige (sehr wenige) Absätze nur schwer lesbar machen; sowas ist man von den weißen Wölfen ja eigentlich nicht gewohnt.

Doch die ersten 45 Seiten des Bandes „gehören“ tatsächlich erst einmal allen. Alleine mehr als eine Seite Lese- und Filmtipps findet man in der kurzen Einleitung, die eben daherkommt wie die Einleitungen unzähliger WoD-Bücher davor.
Doch richtig interessant wird es erst ab Kapitel 1. „Blood and Fire: The History of Chicago“ bietet primär, was der Name verspricht, wobei die 28 Seiten regelmäßig mit Ideen für eigene Szenarien und einfach okkulten Trivia angereichert wurden. Man bekommt ein ganz manierliches und zum Leiten sicher ausreichendes Bild der Metropole, vor allem aber auch schon erste Ideen, was man dort spielen kann.

Vampire, Werwölfe und Magi, wenn es nach White Wolf geht, denn damit ist der allgemeine Teil auch schon vorbei und wir stoßen in die spielbezogenen Abschnitte vor. Bei denen ist jeder von seiner Struktur her mit seinen „Kollegen“ identisch. Ein erstes Kapitel beschreibt die allgemeine Situation innerhalb dieser okkulten Zirkel, ein zweites Kapitel liefert die wichtigen Nichtspielercharaktere dazu ab. Ein drittes Kapitel dann rundet die Zusammenstellung mit einem mehr oder weniger spielfertigen Szenario ab.

Den Auftakt machen entsprechend die Blutsauger, die sich in „State of the Union“ (eben die Gesamtbeschreibung), „Chicago‘s Damned“ (die NSCs) und „Hell Calling“ (das Abenteuer) untergliedern. Auffällig fand ich hier vor allem, dass hier noch einmal ein ganzer Teil der Stadt beschrieben wird, der eher in den allgemeinen Teil gehört hat.
So erfährt man etwa, dass der Teil um den Sears-Tower von allen Fraktionen hart umkämpft ist, die Vampire aber im „Loop“-Teil die Oberhand haben. Doch genauso ist hier etwa zu lesen, dass die „Union Station“ fest in der Hand der Uratha ist und die Vampire selber gar nicht wissen, warum dieser Bereich so wichtig ist. Warum nicht die Geographie allgemein abhandeln und dann nur noch die wirklich spezifischen Eigenheiten in diesem Kapitel? Dann wäre es nämlich auch für Leute, die jetzt keiner der großen drei Gruppen angehören wollen, noch von Nutzen gewesen. Diese nun kommen arg ins Blättern zwischen den einzelnen Gruppen.
Der NSC-Abschnitt ist dagegen vorbildlich und bietet eigentlich zu jedem einzelnen der Charaktere, die noch einmal in Machtgruppen untergliedert wurden, einen eigenen Plothook. Sehr schön. Das Abenteuer ist, wie die anderen beiden auch, mehr ein Szenariogrundriss für einen recht epischen und entscheidenden Konflikt, der fest auf die Vorgaben aus den vorigen Kapiteln aufbaut und sie weiterentwickelt. Ich fand‘s okay, wenn auch nicht umwerfend.

Die Werwolfkapitel, wie schon gesagt, sind gleich aufgebaut und heißen der Reihe nach „The Jungle“, „Wolves of the City“ und „Fires in the Winter“. Die Stadtbeschreibung nimmt hier schon wesentlich aufwändigere Züge ein, die wohl auch der Grund sind, warum viele der realweltlichen Details aus dem Vampire-Abschnitt hier eher kurz kommen. Denn zusätzlich zu der Stadt und den „guten“ wie „bösen“ Fraktionen vor Ort kommt natürlich auch noch Chicagos „Shadow“, der ebenfalls ordentlich Raum einnimmt.
Ich bin jetzt nicht der DORP-Fachmann für Werewolf: the Forsaken, aber was ich geelsen habe, hat mir gut gefallen. Zwar schienen mir die Plothooks etwas rarer als bei den Blutsaugern, aber sie sind da. Haufenweise NSCs sind auch gegeben, ebenso wie zahlreiche Plothooks. Das Szenario letztlich handelt von einem unnatürlich starken Winter, der die Stadt in seine Klauen nimmt, und mysteriösen Feuern, die ausbrechen. Hat mir ausgesprochen gut gefallen.

Bleiben die Magi. „Second Age of the Second City“ heißt hier das allgemeine Kapitel, gefolgt von „Mages of the Second City“ und „Unreal City“. „Second Age...“ ist dabei definitiv der Spitzenreiter bei den Plothooks und bietet zu so ziemlich jedem Absatz mit Überschrift auch gleich einen Abenteueransatz an. Alleine deshalb ist es eines der besten Kapitel des Buches und auch wenn mir persönlich auch in Mage: the Awakening der letzte Einblick bisher fehlt, formten sich hier unzählige Geschichten in meinem Kopf, als ich den Abschnitt las.
Sehr eindrucksvoll, was hier aus dem Kapitel gezogen wird und bei weitem nicht so esoterisch, wie ich das anfangs befürchtet hatte.
„Mages of the Second City“ ist dann eben der NSC-Packen, wie man das aus den vorigen beiden Großkapiteln schon kannte. Sehr umfassend, etwas knapp bemessen was die Aufhänger, dafür aber umso kreativer, was die Charaktere betrifft. Denn Abschluss bildet dann eben das Abenteuer, das eine recht kreative Brücke zur ägyptischen Mystik schlägt. Die ist gut, das Abenteuer an sich sehr kreativ und eine sehr coole Methode, die teils eigene Architektur der Stadt aufzugreifen – wenn ich auch zugeben muss, dass Ägypten für mich dann doch etwas abgenutzt erscheint. Nicht in der nWoD, sondern allgemein im Horrorsegment. Diesbezüglich gefällt mir die Werwolf-Geschichte besser, aber das Magus-Abenteuer ist zweifelsohne lesenswert.

Der Appendix bietet sechs Seiten lang noch Diagramme mit den sozialen Gefügen und Strukturen all der Übernatürlichen der Stadt, was ganz nützlich ist, aber sicherlich nicht mehr als ein Extra. Im Gegenteil, durch einen Druckfehler sind die Magus-Diagramme sogar komplett nutzlos, was einfach ärgerlich ist, wenn sie mittlerweile auch zum Download auf der White Wolf-Webseite bereitstehen.
Abgerundet wird der Band durch einen fünfseitigen Index, was ich nur als ausgesprochen lobenswert bezeichnen kann; man kennt das aus vergleichbar dicken White Wolf-Hardcovern in der Vergangenheit ja durchaus auch anders.

Alles im Band gut oder besser, also eine klare Kaufempfehlung? Schon ... aber eigentlich dann auch wieder nicht. Gut, wollen wir das nun mal erklären. „Chicago“ bietet ein recht gutes Vampire-Kapitel, einen sehr umfassenden Abschnitt für Werewolf und eine sehr faszinierende Mage-Abhandlung, je auf knapp 120 bis 150 Seiten. Wer nun also crossovern will und auf Informationen aus allen drei Bereichen aufbauen will, der erhält ein herausstechend gutes Quellenbuch mit einem immensen Pagecount für einen sehr fairen Preis, wenn man einmal bedenkt, dass der weniger als halb so dicke „Requiem Chronicler‘s Guide“ nur zehn Dollar weniger kostet.
Das Preis/Leistungs-Verhältnis ist auch dann noch gut, wenn man zwei der drei Großkapitel nutzen will, da man – den allgemeinen Teil eingerechnet – immerhin noch mindestens knapp 300 Seiten bekommt. Wer aber nun nur eines der Kapitel verwenden möchte, dem ergeht es schlechter, da er sehr viel Buch mitkaufen muss, das er gar nicht will.
Das ist aber nicht nur eine mathematische Frage. Angenommen ich interessiere mich ausschließlich für „Mage“, will aber weder Kindred noch Uratha außen vor lassen. Und weiter angenommen, ich suche Informationen über die „Union Station“. Schlage ich diese, nachdem ich in „meinem“ Kapitel nichts gefunden habe, im Index nach, so werde ich auf S. 171 verwiesen. Die liegt sozusagen im Werwolf-Territorium und wird dann dort beschrieben, allerdings natürlich aus deren Sicht. Genauso verschweigt mir der Index damit S. 47, wo die vampirische Sicht auf diese Location beschrieben wird. Allerdings verborgen in dem Kapitel über den zentralen Stadtteil „The Loop“, der wiederum auch noch mal ausführlich, ohne die übernatürliche Komponente, auf S. 29 beschrieben wird. Ohne Union Station.

Das ist jetzt nur ein Beispiel, zeigt aber, worauf ich hinaus will – „Chicago“ ist ein hervorragendes Quellenbuch, eines der besten Bücher der neuen WoD bisher, doch wird es durch die gewählte Form der Sortierung in eine „special interest“-Ecke, nämlich die der Crossover-Käufer gedrängt. Es steht alles Wichtige in dem Buch drin, nur wo es steht, wird immer zur Gretchen-Frage. Gerade wer nun wirklich nichts von zwei der drei großen Systeme wissen will, wird sich teilweise vermutlich hier und da einmal ordentlich ärgern.
Wer Verwendung für alle drei Großbereiche des Buches hat und noch eine schön ausgearbeitete Stadt für seine Chronik sucht, der ist hier richtig. Wer eigentlich nur an Detailinformationen zu einer der großen Linien will, der sollte sich das Buch vorher mal anlesen, um zu schauen, ob er mit der gelegentlichen Referenznotlage klarkommt. Es ist jetzt kein ganz grausames Delikt, aber eben zumindest ärgerlich. Wer das Buch für seine Mortals-Runde will, dem sei ganz besonders zur vorherigen Ansicht geraten, denn „Chicago“ ist, wie schon eingangs gesagt, allenfalls „generisch im Sinne der drei großen Systeme“ zu nennen. Und naja, wer keine Städtebücher mag, der sollte sowieso einen Bogen um das Buch machen.

Das Buch bekommt von mir ein „sehr gut“, denn es ist sehr gut geschrieben, von weitläufigem Nutzen und auch noch schön anzuschauen, alles zusammen für faires Geld. Man kann allerdings getrost sagen, dass das Buch für jedes der großen Systeme, die einen nicht interessieren, gut und gerne um eine Schulnote herabgesetzt werden kann.


Name: Chicago {jcomments on}
Verlag: White Wolf 
Sprache: Englisch
Autoren: Kraig Blackwelder, Jackie Cassada, Tom Dowd, Harry Heckel, Kenneth Hite, Forrest B. Marchinton, Deena McKinney, Nicky Rea, Jon Shepherd, Greg Stolze und Chuck Wendig
Empf. VK.: 29,99 US-Dollar 
Seiten: 422