Spirit of the Century

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Spirit of the Century ist ein weiteres Pulp-Action-Rollenspiel, das es nun schon seit einigen Jahren auf dem Markt gibt. Gleichzeitig ist das Buch auch die derzeitige Hauptreferenz für das Fate-System, das als Indie-System angefangen hat und nun bereits in der dritten Edition vorliegt. Inzwischen gibt es eine ganze Anzahl von Rollenspielen (wie etwa das britische Legends of Anglerre oder das Dresden Files Roleplaying Game), die auf Fate basieren. Um auch genauer auf das Fate-Regelwerk einzugehen und mich nicht bei jedem Fate-Spiel wiederholen zu müssen, werde ich diese Rezension in zwei Teilen abwickeln: Einmal über Spirit of the Century als Fate-Grundregelwerk und einmal über Spirit of the Century als alleinständiges Rollenspiel.

 


 

Teil 1: Das Fate-System

Fate stammt von den Leuten der kleinen Spieleschmiede "Evil Hat Productions", die auch heute noch maßgeblich an der Entwicklung des Systems mitarbeiten. Angefangen hat das Ganze als Rollenspielvariante des Fudge-Regelwerks, das wiederum auf den Fudge-Würfeln (dF) aufbaut. Dabei handelt es sich um Würfel in der Form von W6, die aber auf zwei Seiten ein "+" und auf zwei Seiten ein "-" zeigen, die letzten beiden Seiten sind blank. Bei einem Wurf kommen mehrere dF zum Einsatz, wobei die "Plusse" zusammenaddiert und dann die "Minusse" davon abgezogen werden, um das Ergebnis des Wurfes zu bestimmen. Da ein Plus genauso wahrscheinlich ist wie ein Minus, ergibt sich eine höhere Wahrscheinlichkeit für Ergebnisse, die um null liegen, wohingegen extreme Ergebnisse wie "nur Plusse" relativ selten sind.
Bei Fate wird das Würfelergebnis von 4dF mit einem Wert verrechnet und dann mit einer Schwierigkeit verglichen. Das ist eigentlich ganz spannend, denn durch die Wahrscheinlichkeitsverteilung kann man meist damit rechnen, dass das Würfelergebnis den Wert nicht groß verändert, aber manchmal kommt es eben zu überraschenden Ausreißern nach oben oder unten.

Das Grundsystem ist relativ einfach gestrickt: Es gibt Werte, die auf einer Skala zwischen -2 und 8 liegen. Für Proben wird das Ergebnis von einem 4dF-Wurf mit dem Wert verrechnet und die Zahl entweder mit einer festgelegten Schwierigkeit auf derselben Skala oder mit der Probe des Gegners verrechnet. Wenn man die Schwierigkeit oder das Ergebnis des Gegners nicht erreicht, ist die Probe gescheitert. Wenn man über dem geforderten Ergebnis liegt, verwandeln sich die "übrigbehaltenen" Punkte in positive Effekte wie Zeitersparnisse, Schaden oder Boni für den nächsten Wurf.

Charaktere verfügen über 28 feste Fertigkeiten (Skills), die alles abdecken, was der Charakter im Spiel können soll. Die Bandbreite verteilt sich ziemlich gleichmäßig auf typische Bereiche wie Kampf, Wissen, soziale Fähigkeiten etc. - so kann man im Prinzip jedes erdenkliche Charakterkonzept mit Werten umsetzen kann, vom trotteligen Professor bis hin zum knallharten Söldner.
Bei der Charaktererschaffung werden die Skills als "Pyramide" ausgewählt: Der Charakter erhält einen Skill mit dem Wert 5, zwei mit dem Wert 4, drei mit dem Wert 3 usw., alle Skills, die nicht ausgewählt werden, haben automatisch den Wert 0.
Skills sind in ihrer Anwendung extrem abgegrenzt: Ein Charakter, der ein hervorragender Autofahrer ist (Drive 5) kann zum Beispiel weder ein Pferd reiten, noch versteht er irgendetwas von Technik, wenn er die dazugehörigen Skills "Survival" und "Engineering" nicht besitzt.
Alles, was im Spiel irgendwie regeltechnisch abgedeckt werden soll, wird von Skills abgedeckt, andere klassische Werte wie Attribute oder Sondereigenschaften hat ein Charakter eigentlich nicht. Das führt teilweise zu recht interessanten Lösungen. Wenn etwa ein Charakter etwas kaufen will, so wird der Preis als Schwierigkeit dargestellt, gegen die eine Probe auf den Skill "Resources" abgelegt wird.
Die Auswahl der Fertigkeiten geht zwar eher in Richtung eines modernen Settings, aber die Skills sind so allgemein gehalten, dass man selbst für ein Fantasy-Spiel nicht wirklich viel ändern müsste.

Dieses relativ simple und starre System wird durch Stunts ergänzt. Stunts sind eine Mischung aus Regelausnahmen und den aus anderen Systemen bekannten Vorteilen: Stunts geben Boni auf Skills oder Würfe in speziellen Situationen oder unter besonderen Bedingungen. Darüber hinaus können Stunts auch die Anwendung von Skills in anderen Gebieten erlauben und sonstige Dinge, die das Skillsystem nicht abdeckt.
Dadurch kann man Charaktere sehr individuell gestalten und über die Grobheiten des Skillsystems hinwegbügeln. Zum Beispiel könnte der tattrige Professor im Umgang mit anderen Personen eine totale Niete sein, aber ein Stunt könnte es ihm erlauben, in einem akademischen Umfeld seine Wissensfertigkeiten anstelle von sozialen Skills zu würfeln: Der Mann kann vielleicht kein Bier bestellen, aber unter Fachkollegen glänzt er wie sonst keiner. Ein anderer Stunt erlaubt es vielleicht, dass er einen Bonus von +1 auf seinen Skill in Academics bekommt, wenn es um sein besonderes Fachgebiet Anthropologie geht. Und vielleicht bekommt er mit einem weiteren Stunt einen Bonus auf die Totenrituale der Cthulhukultisten auf den Fidschi-Inseln, weil er auf dem Gebiet die totale Koriphäe ist.

Fate sieht kein wirkliches Magiesystem vor, aber auch besondere Fähigkeiten wie bestimmte Kampfmanöver, außergewöhnliche Ausrüstung oder Untergebene werden mit Stunts abgebildet.
An sich funktioniert dieses moderne Prinzip von ausnahmebasierten Regeln recht gut: Jeder weiß, was die Werte machen, wenn es anders sein sollte, steht das auf dem Charakterblatt. Was ich allerdings nicht so ganz verstanden habe, ist die Tatsache, dass in den Regeln zwar steht, nach welchen Regeln und Limits eigene Stunts gebaut werden können, man sich aber trotzdem nicht hat nehmen lassen, ein wahres Grimoire von 90(!) Seiten Stunts zu liefern, die weit über ein paar illustrative Beispiele hinausgehen und das eigentlich sehr schlanke System an dieser Stelle wieder ziemlich wuchtig werden lassen: Spieler wursteln sich durch den Katalog, um zu sehen, ob es nicht schon einen fertigen Stunt für das gibt, was sie wollen und kommen dann eventuell mit etwas wieder, was anscheinend von den Machern willkürlich zusammengebastelt wurde und oft recht obskur wird durch ein "bei der Macht von Willkür!" zusammengestelltes Hierarchiesystem: Um den Stunt nehmen zu könne, musst du zuerst den nehmen und für den erst den...
Bei irgendwelchen coolen Kung-Fu-Fatalities ist es verständlich, dass man vielleicht erst ein paar Nahkampfstunts nehmen muss, um irgendeine geheime Todeskrallentechnik zu erlernen, aber etwa auf dem Gebiet der Sprachkenntnisse ist das einfach übertrieben und albern.
Hier hätte man sich auf ein simples Baukastensystem beschränken und auf eine "Spruchliste" von Beispielen verzichten sollen.

Neben dem Skillsystem hat Fate aber noch ein weiteres Herzstück: Aspekte und Fatepoints. Und dieser Mechanismus dürfte einer der Hauptgründe sein, warum Fate so beliebt werden konnte.
Fangen wir einmal mit den Aspekten an: Jeder Charakter in Fate verfügt über zehn Aspekte. Das sind Dinge, die von den Werten her nicht ersichtlich sind, aber trotzdem einen wichtigen Bestandteil der Persönlichkeit und des Hintergrundes des Charakters darstellen. Verwirrt? Beispiel:
Indiana Jones wird teilweise durch seine Werte definiert: Er ist gebildet, sportlich, charismatisch, kann mit Waffen umgehen. Aber was die Skills angeht, unterscheidet ihn das nicht unbedingt von Lara Croft oder, was weiß ich, James Bond oder Dracula. Allerdings hat Indiana Jones ein paar Charakteraspekte, an denen jeder ihn sofort erkennen würde: Er hat Schiss vor Schlangen, ist auf Abenteuern nie ohne Peitsche und Fedora unterwegs und hat eine gespannte Beziehung zu seinem Vater.
Bei Fate werden diese Aspects in Form von kurzen Stichworten festgehalten. Das können simple Eigenschaften wie "dick" oder "mutig" sein oder sehr spezielle Dinge wie "Hello. My name is Inigo Montoya. You killed my father. Prepare to die." oder "weiß nicht, dass er der Sohn von Darth Vader ist". Diese Aspects haben grundsätzlich zwei Anwendungsmöglichkeiten:
Wenn der Aspekt sich für eine Handlung günstig auswirken könnte, kann man ihn "invoken" und erhält einen Bonus von +2 auf die Probe. Das kostet den Spieler einen Fatepoint. Wenn der Aspekt sich ungünstig auswirken sollte, kann der SL dem Spieler einen Fatepoint dafür anbieten, dass der Spieler seinen Charakter irgendwie in die Scheiße reitet, wenn der Spieler das nicht will, muss er seinerseits einen Fatepoint ausgeben.
Das ist die Grundlage der "Fatepoint Economy": Wenn der Spieler seinem Charakter in gewissen Situationen durch dessen Hintergrund einen Vorteil geben will, muss er sich die Fatepoints dazu verdienen, indem er dem SL zugesteht, ihm an und ab aufgrund des Charakterhintergrundes Steine in den Weg zu legen.

Der Mechanismus sorgt dafür, dass eine Dramaturgie entstehen kann, wie man sie aus Filmen und Büchern kennt: Charaktere erlauben sich zu Anfang der Geschichte und in unwichtigen Situationen eher einmal einen Schnitzer und packen das coole Kung Fu aus, wenn es um die Wurst geht. Oder der Oberschurke ist dem Charakter im Kampf überlegen, bis er enthüllt, dass er es war, der damals die Familie des Charakters umgelegt hat, was dem Charakter dann die nötige Wut (sprich: den durch einen Aspekt "sucht den Mörder seiner Familie" ermöglichten Bonus) liefert, um den Finsterling dann doch noch umzukloppen. Man könnte auch von einem Regelwerk für "charaktergerechtes Rollenspiel™" sprechen, weil Spieler ermutigt werden, sich ihrem Hintergrund entsprechend zu verhalten, während es sie etwas kostet, wenn sie aus der Rolle fallen. Da Aspekte aber teilweise sehr speziell sind, werden sie beim tatsächlichen Spiel vor allem dann zum Einsatz kommen, wenn die Handlung relevant für den Charakter ist.
Allerdings haben nicht nur Charaktere Aspects, sondern auch NSCs, Orte, Szenen und Geschichten. Und man kann nicht nur die eigenen Aspekte verwenden, sondern auch die, von deren Existenz man weiß. Wenn also bekannt ist, dass der Türsteher "dumm wie Brot" ist, kann man einen Fatepoint für dessen Aspekt und einen Bonus von +2 ausgeben, wenn man ihn irgendwie übertölpeln will.
Was aber noch besser ist: Man kann Aspekte nachträglich ins Spiel bringen. Wenn etwa die Gruppe einen verzweifelten Kampf gegen einen gefährlichen Tyrannosaurier ausficht, könnte der Wissenschaftler, der in solchen Situationen eher unnütz ist, eine Probe auf seine fantastischen Wissensskills ablegen und erklären, dass dieser Saurier durch grelles Licht verwirrt werden kann, worauf die dicke Echse dann einen entsprechenden Aspect bekommt und dann mithilfe von Taschenlampen und Fatepoints in die Knie gezwungen werden kann. Auf diese Weise kann jeder Charakter auch in Situationen, die eigentlich nicht seine Stärke sind, zum Erfolg der Gruppe beitragen, indem er Aspekte einbringt oder vorhandene Aspekte aufdeckt.

Das Kampfsystem von Fate ist ebenfalls relativ simpel: Mit einer Skillprobe auf Awareness wird am Anfang eine Initiativereihenfolge festgelegt. Wenn ein Charakter an der Reihe ist, kann er gegen einen Gegner vorgehen. Dabei bleibt es dem Spieler überlassen, wie genau er das machen will, er kann klassisch den Charakter mit einer Kampffertigkeit angreifen lassen, aber auch kreativ andere Skills einsetzen, etwa um mit "Might" einen Kistenstapel auf den Gegner zu stürzen oder ihn mit "Intimidate" zu beleidigen und aus der Reserve zu locken. Der Gegner kann ebenfalls wählen, welcher Skill ihm passend erscheint, um sich gegen den Angriff zu wehren. Die Ergebnisse beider Proben werden verglichen, wenn der Angreifer unter dem Ziel liegt, geht der Angriff fehl, ansonsten gelingt er.
Im Kampf kann man zwischen zwei Arten des Angriffs wählen: Einem Manöver oder einer direkten Attacke. Wenn ein Manöver gelingt, kann der Angreifer einen Aspekt auf sein Opfer legen, wenn die Attacke gelingt, richtet er direkten Schaden an.
Mit Manövern werden klassische Kampfoptionen abgedeckt, wie den Gegner zu Boden werfen oder ihn zu blenden. Nur mit Manövern lässt sich ein Kampf nicht entscheiden, aber sie können dazu dienen, die späteren "echten" Attacken erfolgreicher zu machen. Dabei kommt es auch darauf an, seine Fähigkeiten schlau zu kombinieren. Zum Beispiel könnte ein weiblicher Charakter, der nicht besonders kampfstark ist, ihren Charme spielen lassen und mit dem Skill "Rapport" und einem Manöver dem Gegner einen Aspekt wie "seine Augen kleben an meinem tiefen Ausschnitt" verpassen, um danach mit dem durch diesen Aspekt gewonnenen Bonus die Chance zu erhöhen, trotz unterentwickelten Kampffähigkeiten dem Lüstling einen Tritt zwischen die Beine zu verpassen.
Das Interessante ist, dass dabei die Regelmechanismen extrem simpel bleiben und dennoch eine große Breite aller nur denkbaren Aktionen problemlos abdecken.
Auch kann das System Konflikte sämtlicher Art darstellen, ob es um ein Duell, ein Armdrücken, eine politische Debatte oder ein Verhör geht, solange Charaktere direkt gegeneinander angehen, hat das System das im Griff.

Die Art, wie Schaden abgewickelt wird, ist ebenso ziemlich innovativ: Charakter bei Fate verfügen über "Stress Tracks", einen in Kästchen abgezählten Lebensbalken. Wenn ein Charakter Schaden erleidet, werden die Kästchen abgestrichen, wenn der Balken voll ist, entscheidet der Gegner, was mit dem Charakter passiert. Je nach Art des Konflikts könnte der Charakter gefangengenommen, getötet, vertrieben oder irgendetwas anderes sein, was eben gerade passt. Ein Charakter hat die Option, "Consequences" anzunehmen, um weniger Kästchen Schaden zu bekommen. Eine Consequence ist im Prinzip ein Aspect, der für eine Zeitlang bestehen bleibt, je mehr Stress weggekauft wird, umso länger hält die Consequence. Die genaue Consequence kann sich der getroffene Charakter dabei relativ frei aussuchen. Ein erfolgreicher Pistolenangriff kann zu einem "Streifschuss" werden, zu einem "Klingeln in den Ohren", zu einem "am Rande des Nervenzusammenbruchs", solange es irgendwie Sinn macht. Diese Consequences kann der SL dann später gegen den Charakter verwenden, etwa, wenn er trotz der Schussverletzung eine hohe Mauer überklettern will.

Stress Tracks gibt es bei Fate in zwei verschiedenen Geschmacksrichtungen, "physical" und "social". Da Skills teilweise Einfluss auf die Länge der Stress Tracks haben, kann es so sein, dass ein Charaker zwar körperlich viel wegstecken kann, aber in einem Streit leicht aus der Fassung zu bringen ist oder umgekehrt. Stress Tracks werden am Ende jeden Konflikts wieder zurückgesetzt. Consequences bleiben länger bestehen, etwa für einen Spielabend oder für den Rest der Geschichte. Ein Charakter kann drei verschiedene Consequences einstecken, dabei wird nicht unterschieden, woher die Consequence stammt. Daher kann es durchaus passieren, dass ein Charakter, der sich am Anfang von der bösen Verführerin das Herz hat brechen lassen, am Ende einen Fausthieb nicht mehr einstecken kann, weil er schon eine Consequence verbraucht hat.

Was Fate interessanterweise komplett abgeht, sind Mechanismen zur Charakterverbesserung. Zwar gibt es ein paar halbgare Vorschläge, den Charakter weiterzuentwickeln, indem man Skillwerte tauscht und Aspekte verändert, aber irgendwelche Stufen, Werteerhöhungen und andere Regeln, um vom Stallburschen zum größten Krieger des Landes zu werden, fehlen völlig.

Es gibt noch allerlei Kleinigkeiten und Detailmechanismen, aber unterm Strich ist Fate außergewöhnlich einfach und unkompliziert und kann trotzdem, was Taktik und Anwendungsbreite angeht, mit den verbreiteten Spielsystemen problemlos mithalten. Das wird vor allem dadurch erreicht, dass Fate die Spielwelt auf einer ziemlich abstrakten Ebene abbildet, eine große Bandbreite von Charakteraktionen werden durch ein und denselben Mechanismus abgebildet.
Die wirkliche Stärke von Fate liegt aber im Spiel mit Aspekten, wodurch die Ebene der Dramaturgie und des Hintergrundes in die Regeln miteingebracht wird. Charaktere haben nicht nur Erfolg, weil sie gute Werte haben, sondern auch, weil es mit ihrem Hintergrund unter den gegebenen Umständen Sinn macht, dass sie Erfolg haben.
Das dürfte auch der Punkt sein, an dem sich die Geister scheiden: Wer eher Wert darauf legt, dass eine Spielwelt konsequent simuliert wird, wird sich an Fate wahrscheinlich eher stoßen, wem wichtiger ist, dass die Dramaturgie der Handlung im Vordergrund steht, für den ist Fate eher das Richtige.

Auf jeden Fall ist Fate sehr modern und einen guten Schritt von traditionellen Systemen mit Attributen, Fertigkeiten, Lebens- und Magiepunkten, Tabellen für Modifikatoren und Waffen mit sechs Werten entfernt, ohne dabei Finessen und Vielfältigkeit vermissen zu lassen, die Handlungsoptionen der Charaktere zu beschränken oder vom gewohnten Spiel mit Spielleiter, Charakteren und Werten wegzukommen.

Für mich stellt Fate eindrucksvoll dar, was passiert, wenn man mit einem System nicht nur Geld verdienen will und wenn man Lösungen anstatt Ideen hat. Natürlich wird es nie ein bestes System geben und auch Fate ist weit davon entfernt, dass man es nicht mehr verbessern kann, aber für ein kleines, unabhängiges Universalsystem schneidet es gegenüber der kommerziellen Konkurrenz verdammt gut ab.
Inzwischen gibt es verschiedene Rollenspiele zu kaufen, die alle leicht abgewandelte Versionen von Fate verwenden, aber das System ist unter der OGL veröffentlicht worden und das SRD (System Reference Document), also der Regelteil, ist komplett gratis im Netz zu haben und jeder kann das System spielen oder sogar ein eigenes Rollenspiel damit herausbringen und ein Heidengeld verdienen.
Fate ist also allemal einen Blick wert.


 

Teil 2: Spirit of the Century

Die Leute von Evil Hat wollten ein Rollenspiel machen, in dem sie ihre weiterentwickelte (dritte) Version von Fate verwenden konnten, hatten aber wohl nicht die Ambitionen, zu einem neuen System jetzt auch noch ein völlig neues, innovatives Setting zu erfinden. Also entschied man sich für ein Pulp-Action-Spiel und 2006 war Spirit of the Century geboren.

Das Spiel kommt in einem ordentlich verarbeiteten Softcoverband daher, der zum Setting passend im Comicbuchformat gehalten ist, aber immerhin beeindruckende 400 Seiten umfasst.
Bunter Umschlag und innen schwarz-weiß, simples Papier, wie man es von Taschenbüchern kennt, Das Layout beschränkt sich auf einen ordentlichen Satz, uninspirierte Zierbalken, eine Indiana-Jones-mäßige Type für Überschriften und die vereinzelten Bilder von Christian St. Pierre. Die passen insofern zum Setting, dass sie aussehen, als wären sie uralten Comicbüchern der Generation "Sigurd" entsprungen und sind auch handwerklich gut gelungen, aber vom Hocker haut einen so etwas natürlich nicht. Immerhin: Doppeldecker fliegende Gorillas auf dem Cover, wenn das kein Pulp ist...
Im Vergleich zu Layout-Monstern wie den Büchern von WotC oder White Wolf hat der Band natürlich keine Schnitte. Aber man hat durch das Buch hinweg den Eindruck, dass das den Machern bewusst war und sie darum einen großen Ehrgeiz darein gelegt haben, alles andere richtig zu machen.

Das ist ziemlich beeindruckend gelungen, denn für ein Werk, das von drei Leuten geschrieben, drei Leuten (plus einer Internet-Fangemeinde) lektoriert und von einem der drei Autoren gelayoutet wurde, ist das Regelwerk gut strukturiert, extrem angenehm lesbar, mit einem ausführlichen Inhaltsverzeichnis und passendem Index versehen und die Texte ziemlich fehlerfrei.
Das ist etwas, das die große Konkurrenz selten so hinbekommt und man merkt auf jeder Seite, dass viel Liebe in das Buch geflossen ist, ohne dass es an professionellem Können gemangelt hätte. Das sind natürlich auch Qualitäten, die vielleicht nicht dazu führen, dass das Buch in der Vitrine landet, aber die es sowohl zu einem nützlichen Begleiter am Spieltisch als auch zu einer angenehmen Bettlektüre machen. In seiner Klasse ist das Buch auf jeden Fall top.

Inhaltlich gibt es zuerst einmal eine Einführung, die auf einer Seite kurz herunterreißt, was die Autoren unter Pulp und unter Rollenspiel verstehen, bla, aber kurz. Interessant ist der Ansatz, dass Spirit of the Century als "pick-up game" gedacht ist: Nach der Vorstellung der Autoren soll man einfach einmal wild mit dem Freundeskreis Charaktere bauen und wenn Zeit und Lust besteht, treffen sich die, die gerade können mit ihren Charakteren und spielen einen One-Shot durch. Und wenn die das nächste Mal keine Zeit haben, dann spielen halt dann andere wieder einen One-Shot.
Ein Rollenspiel als so eine Art Gesellschaftsspiel anzulegen, bei dem mitmacht, wer gerade Zeit und Lust hat, ist mir bisher so noch nicht untergekommen und ist eine prima Idee für Rollenspieler, die sich eben nicht immer dreimal die Woche treffen können, um Teil hundertsiebenundvierzig der Verdammnis-Kampagne durchzuzocken...

Weiter geht es mit einem kurzen Abriss des Hintergrundes, einem Überblick über das System und der Charaktererschaffung. Auch bei der wurde der "pick-up"-Faktor berücksichtigt: Die Charaktererschaffung ist recht schlank, Konzept, Skills und Stunts verteilen, Stress Tracks ausrechnen, fertig. Dann wird noch in fünf Schritten die Hintergrundgeschichte des Charakters festgelegt, bei jedem Schritt gibt es zwei Aspekte. Schritt 1 ist Kindheit und Jugend, Schritt 2 die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, Schritt 3 ist das erst Abenteuer des Helden. Schritt 4 und 5 sind Gastauftritte beim ersten Abenteuer eines Mitspielercharakters (man selbst muss sein erstes Abenteuer  dann auch zwei anderen Charakteren zur Teilnahme zur Verfügung stellen), zack! hat man Anfangsmotivation und Gruppenzusammenführung, noch bevor die Würfel ausgepackt sind. Das ist ziemlich spartanisch, aber das Spiel ist ja darauf ausgelegt, schnell mit Freunden ein paar Pulp-Abenteuer zocken zu können, ohne viel Vorbereitung.
Wem das immer noch zu aufwändig ist (etwa weil er neu zur Gruppe kommt und nicht noch am Charakter basteln will, während die andern schon spielen), kann den Charakterbogen auch on the fly ausfüllen: Schreib den Namen auf und zwei Aspekte und wenn es ans Würfeln geht, denk dir den Wert aus und schreib ihn auf deinen Bogen. Ziemlich locker, ziemlich schnell, Zielvorgabe erfüllt.

Nach der Charaktererschaffung werden die einzelnen Spielmechanismen noch einmal kapitelweise genauer erklärt: "Aspects", "How to Do Things", "Skills", "Stunts", "Gadgets and Gizmos".

Die Kapitel "Running the Game" und "Tipps and Tricks" richten sich vor allem an den SL und haben ein paar ziemlich gute Ratschläge sowohl für Neueinsteiger als auch für alte Hasen auf Lager. Kein Scheiß: Ich habe schon lange keine tollen Spielleitertipps mehr irgendwo gelesen, die mich völlig überrascht hätten, aber da das Thema "Spielleiten" ganz extrem auf das Thema "Spielleiten von Pulp-Kurzabenteuern" fokussiert ist, waren da schon ein paar interessante Ideen und Überlegungen dabei. Wer One-Shots spielen will, sollte sich da vielleicht einmal umlesen. Dieser Spielleiterteil umfasst über 110 Seiten und keine davon ist trivial, löblich, dass gerade das doch er fummlige Thema, wie man den Mist jetzt schließlich mit einer Horde Spieler umsetzen soll, sowohl von der Seite "Regeln" als auch "Dramaturgie" und "mit Leuten umgehen" so umfangreich und sinnvoll abgehandelt wurde.

Und danach... Kommt ein Loch. Ein Abenteuerszenario "The Nether Agenda" von 14 Seiten, das so egal und langweilig war, dass ich für die Rezi noch einmal nachlesen musste, um was es im Einzelnen ging. Wie gesagt, völlig ungeil und weder die ausgezeichneten Spielleitertipps noch die besonderen Regelmechanismen des Systems finden hier irgendwie Verwendung. Ein paar Beispielszenarien, die im Spielleiterkapitel in  fünf Sätzen angerissen werden sind besser. Das einzig Gute an dem Ding ist , dass es nur 14 Seiten lang ist, 14 Leerseiten für Notizen währen mir persönlich lieber gewesen...

Dann geht es wieder zurück aufs alte Niveau mit "Secrets of the Century", in der der Hintergrund mit allen Geheimnissen noch einmal für den Spielleiter genau erklärt wird.
An sich ist das Setting ziemlich cool. Die Grundidee ist, dass die Kinder, die am ersten Tag eines neuen Jahrhunderts geboren werden, besondere Menschen sind, die das Schicksal des folgenden Jahrhunderts bestimmen und an allen großen Ereignissen der Weltgeschichte teilnehmen. Der weltweit respektierte "Centurion Club", der nach außen die Fassade eines Gentlemanclubs für Abenteurer und Weltenbummler pflegt, macht es sich zur Aufgabe, diese besonderen Individuen zusammenzubringen und zu unterstützen.
Die Charaktere sind also alle am 1.1.1900 geboren und egal auf welcher Farm in Iowa oder bei welchem indischen Wolfsrudel sie aufgewachsen sind, sie haben alle eine schicke Clubadresse und sind "Centurions" (der Club nimmt natürlich Frauen wie Männer jeder Abstammung und Nation gleichberechtigt auf).

Die Handlung findet in den frühen 20er Jahren statt, die Charaktere sind also alle Anfang zwanzig. Allerdings gibt es zwei große Komplikationen: Einmal geht es auf einen Jahrtausendwechsel zu und neben dem Century Club mit seinen Ambitionen, der Menschheit ein gutes Jahrhundert zu geben, rühren sich gewisse Mächte, denen es nicht um die Jahrhunderte, sondern um die Jahrtausende geht. Und dann ist die vorherige Centurion-Generation (die üblicherweise lange genug lebt, um ihre Nachfolger einzuweisen) größtenteils bei Heldentaten im Weltkrieg umgekommen, weswegen der Century Club geschwächt ist und zahlreiche Centurions sich eher der dunklen Seite zugewandt haben (sprich: Superschurken statt Superhelden). Das Setting ist relativ simpel gestrickt, hat aber doch ein paar nette Ideen und sehr viel Charme, ohne dass diese dem Pulp-Action-Grundgedanken in die Quere kämen...

In dem Hintergrundkapitel für den Spielleiter finden sich außerdem ein ziemlich nützlicher Überblick über die verschiedenen Teile der Welt in den 1920ern, Nationen, Städte, politische Entwicklungen wie Prohibition und Bolschewismus und ein Zeittafel über die Epoche. Das alles natürlich unter dem Gesichtspunkt "Pulpabenteuer", aber an sich sehr gutes und nützliches Material auf 14 Seiten und passend "The Name Dropper's Guide to the Pulp Era" betitelt.

Die letzten Kapitel stellen dann sozusagen den Anhang dar: In "Quick Pick Stunt Pack" gibt es Stuntpakete, wenn man sich mit dem gewaltigen Stunt-Katalog nicht herumschlagen will. Die "Bibliography" enthält Bücher und Filme, die zur Inspiration dienen können, viele bekannt, manche obskur, auf jeden Fall ganz nett. Sehr selbstbewusst fand ich, dass man hier nicht weniger als 15(!) Rollenspiele zusammengefasst hat, die entweder mit Pulp oder den 20ern zu tun haben und zwar von Call of Cthulhu und Adventure! bis hin zu Exoten wie Pulp-Fu und Pulp Zombies. Anscheinend fürchtet man sich bei Evil Hat Productions vor keiner Konkurrenz.
Die "Sample NPCs" sind genau das, sechs fertige Spielercharaktere und drei Schurken zur sofortigen Verwendung.

Abschließend ist noch zu erwähnen, dass Evil Hat einem beim Kauf eines Buches die PDF-Version gratis dazu gibt. Ich persönlich bin nicht so ein großer E-Book-Fan, aber gratis ist es allemal nett. Das PDF eine genaue Kopie des Buches, aber natürlich durchsuchbar und mit elektronischem Inhaltsverzeichnis versehen. Dazu hat Evil Hat eine "Bits and Mortar"-Politik, im Prinzip bedeutet das, dass jeder Rollenspielhändler, der das Buch verkauft, PDF-Kopien bekommen kann, die er dann per USB-Stick oder auf DVD gebrannt oder per E-Mail gratis zum Buch dazugeben kann. Diese Initiative soll vor allem die kleinen Rollenspielgeschäfte unterstützen und sie gilt weltweit. Wenn ihr also Spirirt of the Century irgendwo kaufen wollt, solltet ihr euch nach dem PDF erkundigen, wie gesagt, der Hersteller bietet es gratis dazu, wenn ihr es nicht kriegt, ist euer Händler uninformiert, faul oder betuppt euch.

Spirit of the Century ist eigentlich ein rundum gutes Produkt geworden, wobei die Stärke deutlich eher in dem System als im Setting liegt. Der wirkliche Mangel des Spiels ist, dass ein vielseitiges und starkes System wie Fate mit Spirit of the Century in die recht überfüllte und kleine Pulp-Nische gestopft wurde, obwohl das System deutlich mehr kann. Gerade aufgrund der sehr angenehm zu lesenden Texte und der guten Didaktik des Buches kann ich das Spiel jedem ans Herz legen, der Fate spielen will. Für alle Interessierten ist das SRD des Spiels, das auch den hervorragenden SL-Teil enthält und nur die Setting-Teile, die Beispielcharaktere und natürlich sämtliches Layout und die Illus vermissen lässt, online für jeden verfügbar.


Titel: Spirit of the Century
Originalausgabe
Autoren: Rob Donoghue, Fred Hicks, Leonard Balsera
Verlag: Evil Hat Productions
Seitenzahl: 420
Sprache: Englisch
Preis: $ 30.00 (Print + PDF)

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